Bilde sich wer kann – warum auch nicht?

B

Lernpapier zu Bildung: Subjekt und Gesellschaft
Literatur: unter anderem Wilhelm von Humboldt (zur Theorie der Bildung des Menschen), Heinz-Elmar Tenorth (zur Kultivierung der Lernfähigkeit), Pierre Bourdieu (zu Strukturen, Habitusformen und Praktiken) und Norbert Ricken (zur Bildung als Subjektivierung) …

MAX & MORITZ

Max und Moritz
Also lautet der Beschluß,
Das der Mensch was lernen muß.
Nicht allein das ABC;
Bringt den Menschen in die Höh’;
Nicht allein in Schreiben, lesen
Übt sich ein vernünftig Wesen;
Nicht allein in Rechnungssachen
Soll der Mensch sich Mühe machen;
Sonder auch der Weisheit Lehren
Muß man mit Vergnügen hören (Wilhelm Busch, 1865).


I. Was ist Bildung?

Bildung gehört zunächst einmal zu den zentralen Praktiken unserer Gesellschaft. Ohne Bildung – könnte man lapidar sagen – sind wir aufgeschmissen. Sie dient dazu im menschlichen Miteinander handlungsfähig zu werden und macht uns auch zu dem was wir im Speziellen sind – was uns von anderen unterscheidet. Ich zum Beispiel bin u. a. gelernter Bäcker und studierter Sozialarbeiter …
Einer, der zum Thema Bildung immer wieder herangezogen wird, ist Wilhelm von Humboldt, der nicht nur die moderne Universität begründete sondern auch den Wert und Nutzen allgemeiner Grundbildung als „Lernen des Lernens“ explizierte.  In seiner „Theorie der Bildung des Menschen“ schreibt Humboldt, dass es im Wesen, in der Natur des Menschen liegt, sich selbst zu verbessern und zu veredeln, womit Humboldt auch an das Konzept der Perfectibilité von Rousseau anschließt.
Humboldt zielt mit seinem Verständnis von Bildung mitnichten auf die Nützlich-Machung des Menschen für die Gesellschaft sondern auf die Menschwerdung in Freiheit und Unabhängigkeit. Ihm zu folge ist der Versuch in einer Ausbildung nur den eigenen Vorteil zu suchen – also lediglich auf einen Endzweck ausgerichtet zu lernen – unbefriedigend und unnütz. Warum? Zum einen kann natürlich die Auswahl dessen, was man aus der Vielheit der Welt wählen soll, nicht frei und unabhängig sein. Entweder ist sie uns durch Stand oder Herkunft – meint: durch Zuweisung – vorgegeben oder das Produkt reinen Zufalls. Letzteres, weil die „Wahl unter mehreren … aus Mangel an Fertigkeit […] früher oder später dahin [führt], sich allein dem Zufall zu überlassen“ (Humboldt). Zum anderen widerspricht die zweckgebundene Bildung auch dem Drang so viel wie möglich von der Welt, so fest wie wir nur können mit uns zu verbinden. Denn was von uns könnten wir denn mit der Welt verbinden, wenn wir die Bildung nur als „zeitverkürztes Spielwerk“ gebrauchen? Nichts – oder zumindest nicht viel.

„Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will“ (Wilhelm von Humboldt)

Hier drängt sich natürlich die Frage auf, was wir über das Spezielle hinaus eigentlich sind. Was bin ich noch, außer Bäcker und Sozialarbeiter? Was meint Humboldt mit dem Wesen, dem Wert und Dauer verschafft werden soll? Den Menschen? Ja! Oben habe ich es erwähnt: Humboldt zielt mit seinem Verständnis von Bildung auf die freie und unabhängige Menschwerdung, womit zum einen die äußerst wichtige Unterscheidung zwischen Allgemeinem und Speziellem, zum anderen aber auch die Forderung, der leblosen Natur den Stempel seines Schaffens aufzudrücken, angesprochen ist.
Zu Ersterem: Wer nur das Spezielle – die Aneignung von Spezialwissen – als Inhalt von Bildung versteht, übersieht, was Bildung noch leistet: die Menschwerdung in Freiheit und Unabhängigkeit. Mit Bildung nämlich kann nicht nur der Erwerb wissenschaftlichen Wissens gemeint sein. Was würde uns denn einen, hätten wir alle unterschiedlichen Spezialbildungen? Mit Bildung meinte Humboldt alle möglichen Formen der Aneignung von Welt – also auch die Aneignung von Gesinnung und Moral; das Allgemeine, was uns als Menschen gemein sein kann.
Zu Zweiterem: Ein weiterer zentraler Aspekt des Humboldt’schen Bildungsverständnisses ist das Bild eines versammelnden und erhellenden Spiegels, einer Art Hohlspiegel in dessen Zentrum der Mensch steht. Nur durch das Festhalten dessen, was wir in der Vergangenheit lernten, wird die Verknüpfung mit Neuem möglich. Bildlich gesprochen, bewegen wir uns als Menschen also in einer dunklen Halle (Vielheit der Welt), in der wir nur sehen, was der versammelnde Spiegel vor und hinter uns erhellt (Allheit faktisch möglicher Spezialbildung). Durch die Verknüpfung dessen, was wir der Welt bereits aufgeprägt (oder eben eingeschrieben) haben – im Bild unsere Fußspuren – lernen wir und ermöglichen darüber hinaus unserer Nachkommenschaft den Fortschritt, der die Geschichte der Menschheit seit je her prägt.
Humboldt lässt sich also, was die Bildung betrifft, folgender Maßen zusammenfassen: Bildung als Menschenbildung umfasst sowohl die umfassende Spezialbildung als auch die allgemeine Ausbildung von Gesinnung und Moral. Wenn wir als Menschen unserem Wesen Wert verschaffen wollen – meinte Humboldt – dann können wir das nur mit unserem Menschsein tun.

„Die letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, […] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (Wilhelm von Humboldt)

II. Wie geht Bildung vonstatten?
Wenn Bildung die „Verknüpfung des Ichs mit der Welt“ bedeutet und nicht nur Spezielles, sondern auch Allgemeines einbezieht, stellt sich natürlich die Frage, wie Bildung vonstatten geht? Mit der ‚Aneignung von Welt’ kann schließlich nicht nur das Lernen von Verhaltensweisen und Routinen gemeint sein, oder doch?
Im Humboldt’schen Bildungsverständnis ist das bloße Lernen von Routinen und vorgelebten Verhaltensweisen keine Bildung, denn es ist ja keine freie und selbstbestimmte Auseinandersetzung mit der Welt und muss daher eher unter den Begriff der Sozialisation subsumiert werden (dazu später mehr). Mit Bildung ist vielmehr die Auseinandersetzung und das Aneignen von Welt – die Formierung der Welt (der leblosen Natur das Gepräge seines Wesens aufdrücken) sowie auch die Formierung des Selbst (durch ein regelmäßiges Fortschreiten) – gemeint. So schrieb Humboldt:

„Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloss ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache“ (Wilhelm von Humboldt).

‚Bloß ein Gegenstand’? Reicht es sich Zeit seines Lebens nur mit einem Ding auseinander zu setzten, das in der äußeren Welt zu finden ist? Sicherlich nicht! Wie sollten wir uns denn unserer Nachkommenschaft, der wir den Fortschritt ermöglichen sollen, mitteilen, wenn wir weder sprechen noch schreiben gelernt haben? Ist die Selbsttätigkeit des Menschen nicht etwas voraussetzungsvoller? Ja – bestimmt!
Humboldt betonte in seiner Denkschrift über den Königsberger Schulplan das Lernen des Lernens, was Heinz-Elmar Tenorth wiederum zur Kultivierung der Lernfähigkeit ausbaute. Wilhelm von Humboldt wird wohl zu Recht als liberaler Theoretiker rezipiert, der eher im neuhumanistischen als im aufklärerischen Paradigma (wie etwa Eduard Spranger) argumentierte. Für Humboldt stand – wie oben zitiert – der Mensch und dessen Wille sich zu Veredeln im Mittelpunkt aller Bemühungen. Für Spranger waren es dagegen eher die gesellschaftlichen Entwicklungen, zu der Bildung beitragen kann. Beide Paradigmen – sowohl den Liberalismus als auch den Kommunitarismus – finden wir auch heute noch in gesellschaftstheoretischen Debatten (bspw. um die sog. „Bürgergesellschaft“).
Mit Blick auf die allgemeine Grundbildung – die Schulbildung – wird aber sowohl der Liberalismus als auch der Kommunitarismus problematisch. Zum einen soll Schule ja die Voraussetzungen der Menschwerdung liefern, zum anderen können wir in unserer wertpluralistischen Gesellschaft nicht mehr genau (voraus)sagen, was denn genau die Voraussetzungen der Menschwerdung sein werden. Zum einen sollen also neben den Fertigkeiten die das Lernen (technisch) ermöglichen auch Gesinnung und Moral vermittelt werden, zum anderen fehlen uns die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten früherer Tage. Was müssen wir denn Lernen, wenn wir nützlich für die Gesellschaft oder eben nur frei sein sollen uns selbst zu bilden? Heute ist längst nicht mehr so klar wie früher, dass wir die Schönschrift üben und die Geschichte des Sündenfalls lernen müssen. Mit eben diesem Problem beschäftigt sich Tenorth in seinem Kapitel über die Kultivierung der Lernfähigkeit.
Tenorth schreibt zunächst, dass die allgemeine Bildung nicht viel mehr als ein Spezialfall dessen ist, was Sozialisation generell leisten sollte. Wie bei Humboldt auch umschließt die allgemeine Bildung bei Tenorth sowohl die Vergesellschaftung des Menschen (die allgemeine Menschwerdung) wie auch die Konstruktion des Subjektes (was uns im Speziellen ausmacht). Die historische Allgemeinbildung in der Schule beschreibt er dementsprechend als politische Entscheidung über wünschenswerte Gesellschaft und formuliert damit das zentrale Problem: Was ist denn dauerhaft wünschenswert?
Sicherlich gab es in Zeiten der Monarchie und Diktatur sehr klare Vorstellungen von dem, was wünschenswert war. Nur wissen wir eben alle, dass das 1000-jährige Reich keine 1000 Jahre währte und dass die Moralvorstellungen älterer Generationen besonders in den späten 60ern auf erbitterten Widerstand stießen. Mit der Pluralisierung von Lebensentwürfen, Gesinnung und Moral rückte das Prinzip des Imperativs der Möglichkeiten in das Zentrum politischer Entscheidungen. So lange wir die Zukunft nicht voraussagen können – und das werden wir wohl nie 100%ig können – gilt es stets mehr Möglichkeiten zu eröffnen als zu verschließen. Wenn wir aber nicht wissen, ob wir Morgen noch lesen können sollten oder die Fachbücher endlich auch in der Uni-Bibliothek als Audio-Datei angeboten werden, wozu dann die allgemeine Bildung, die wir in der Schule haben erwerben müssen (Schulpflicht)?
Sicherlich: das Beispiel des Lesens und Schreibens ist überspitzt, es illustriert aber, was gemeint ist: Niemand kann sagen, was die Zukunft bringt, weshalb Tenorth die Aufgabe der allgemeinen Bildung auch als paradoxe Lösung beschreibt.

„Allgemeine Bildung wird anscheinend die Form, in der moderne Gesellschaften die Tatsache bearbeiten, dass sie gesamtgesellschaftlich auf Selbstverständlichkeiten nicht mehr bauen und ihren  Qualifikationsbedarf technologisch nicht bestimmen können (Heinz-Elmar Tenorth)

Hier wird wieder deutlich, dass das Humboldt’sche Lernen des Lernens nichts von seiner Aktualität verloren hat. Wenn sich unsere Welt ständig wandelt, müssen wir immer weiter lernen um uns in ihr immer wieder auf’s Neue zu Recht zu finden und dabei als Menschen friedlich miteinander leben zu können. Man darf Humboldt also nicht so verstehen, dass man allgemeine Grund- oder Schulbildung hat oder nicht hat, sondern, dass man mehr oder weniger Lernfähig ist.
Tenorth führt hier weiter aus, dass uns die allgemeine Bildung im Rahmen einer funktionsteiligen Gesellschaft handlungsfähig macht. In der Schule wird sich dementsprechend auf vermittelbare Verfahren im Umgang mit funktionalen Problemen unserer Gesellschaft konzentriert – funktionale Probleme wie Knappheit, Wahrheit und Recht bzw. Unrecht. Zum einen ist es der lernende Umgang mit diesen vielgestaltigen Problemen, die wir in der Schule beigebracht bekommen sollen. Zum anderen sind es aber auch die adäquaten Reaktionen auf eben diese gesellschaftlichen Probleme, die durch allgemeine Bildung vermittelt werden müssen um unsere Gesellschaft über die Generationen hinweg zu stabilisieren.
Hier zeigt sich die generationsübergreifende Funktionserhaltung der allgemeinen Bildung, die nicht nur auf der kognitiven Ebene (Wie gehe ich mit Problemen um?), sondern auch auf der moralische Ebene (Was ist anerkanntes, was akzeptables Handeln?) wirkt. Allgemeine Bildung gibt uns also nicht nur die Möglichkeit immer neue Problemlösungen zu finden, sondern auch einen gewissen Rahmen in dem wir diese Lösungsansätze suchen.
Man stelle sich nur vor, allgemeine Bildung würde nicht auch auf diesem Wege wirken. Was würde wohl passieren, vermittelte die allgemeine Bildung nicht auch gewisse Vorstellungen von Moral? Ganz einfach: Die vitalen, starken – biologisch überlegenen – jungen Menschen (Nietzsches ‚Herren-Menschen’) würden die Alten, die ihnen Probleme bereiten, einfach totschlagen. Keine Richter würde sagen können, dass gegen geltendes Recht verstoßen wird, kein Wissenschaftler könnte beweisen, dass etwas wahr oder falsch ist und kein Volkswirt könnte sagen, dass jemand arm oder reich ist. Die mehr oder minder friedliebende Gesellschaft, die wir kennen, würde in sich zusammenbrechen.
Als in der allgemeinbildenden Schule vermittelte Fähigkeit garantiert die Lernfähigkeit also “individuelle Verhaltensdisposition”, die den “Menschen im Umgang mit Schwierigkeiten und Problemen kognitive Lösungswege und Strategien bevorzugen und zugleich einen Erwartungs- und Verhaltensstil abwehren [lassen], der z.B. auf Gewalt statt auf Lernen setzt” (Tenorth). Der Anspruch der allgemeinen Bildung als Kultivierung der Lernfähigkeit liegt dabei darin, die Lernfähigkeit sowohl „breiter’“ als auch „besser“ zu verwirklichen.

  • Breiter: Der Verhaltensstil des ‘Lernens statt Verzweifelns’ soll in möglichst vielen Problembereichen menschlichen Handelns zur Geltung kommen (Zivilisation)
  • Besser: Der Standard der Realisierung bzw. dessen habitualisierte Praxis soll möglichst hoch sein (Besser ist es ein eigenes Experiment arrangieren zu können, als nur mal in der Wikipedia nachzuschlagen)

III. Kritik
Der moderne Begriff der Bildung ist an dieser Stelle, wenn auch nicht umfassend, dann doch wenigstens in Grundzügen beschrieben. Will man wie Tenorth das liberale Bildungsverständnis Humboldts mit aufklärerischen Ideen der Nützlich-Machung des Menschen verbinden, könnte man sagen, dass die Bildung als Menschenbildung das gesellschaftliche Fortkommen durch das Kultivieren der individuellen Lernfähigkeit auf kognitiver wie moralischer Ebene sichert. Jeder Mensch muss seinem inneren Drang nachgehen und sich selbst vervollkommnen um auch in der weitgehend unsicheren Zukunft unserer Gesellschaft zum Fortschritt beitragen oder mindestens adäquat mit gesellschaftlichen Problemen umgehen zu können.
Doch – und diese Frage drängt uns Pierre Bourdieu auf – sind wir Menschen denn so frei und selbstbestimmt, wie es das Humboldt’sche Bildungsverständnis nahe legt? Sicherlich nicht! Oben habe ich es schon angedeutet: Die Begriffe der Bildung – die freie und selbstbestimmte Aneignung der Welt zum Zwecke der Menschwerdung – und der der Sozialisation – als Subjektwerdung nach vorgängigen Vorbildern (Denn der Mensch wird am Du zum Ich) – liegen dicht beieinander und unterscheiden sich doch fundamental. Es stellt sich die Frage: Kann denn die Bildung frei und selbstbestimmt sein, wenn ihr die Sozialisation, die genuin nicht frei und selbstbestimmt sein kann, voraus gehen muss? Nein – kann sie nicht. Wenn wir Neues lernen indem wir es mit bereits Gelerntem verbinden (man denke an das Bild des Hohlspiegels), können wir niemals selbstbestimmt lernen, weil uns das grundlegende ‚Assoziationsmaterial’ quasi von Haus aus gegeben ist.
Bourdieu beschreibt dies als Inkorporation immer individueller Habitus, die wiederum in gesellschaftlichen Klassensystemen Ähnlichkeiten (Homologien) aufweisen und so dem Einzelnen Handlungssicherheit geben – also bestimmte Verhaltensweisen und Entscheidungen erwartbar machen.

Der Habitus ist ein „System dauerhafter und Übertragbarer Dispositionen“, die als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für „Praktiken und Vorstellungen“ fungieren, und zwar im Sinne einer „Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein“ (aus Pierre Bourdieu).

Bourdieu meint, dass wir Menschen nur in einem bestimmten Rahmen frei handeln – uns frei für oder gegen etwas entscheiden – können und widerspricht damit sowohl dem Strukturalismus als auch dem Subjektivismus. Weder sind es also irgendwelche Strukturen – als eine Art Grammatik des Sozialen – noch sind es allein die Entscheidungen der Einzelnen, die unsere Geschicke lenken. Die oft zitierte Tautologie der strukturierenden Struktur, meint genau das: Sie lässt zwar eine zu Grunde liegende Struktur erahnen, nicht aber im Sinne von vorbestimmenden Kausalzusammenhängen schlussfolgern.
Noch etwas weiter geht Norbert Ricken mit seiner Kritik des Bildungsbegriffes. Ricken greift den Subjektivierungsansatz Michel Foucauls auf und beschreibt die Bildung als zentrale Praktik der Subjektivation und Machtfiguration in modernen Gesellschaften. Was ist wohl damit gemeint?
In Foucauls Theorie der Subjektivation spielt Macht eine zentrale Rolle. Nicht etwa im negativen Sinne von „Fremdsteuerung“ durch Machtmittel wie Geld oder körperliche Überlegenheit, sondern im antreibenden Sinne der Selbststeuerung bzw. –disziplinierung (siehe bspw. Michel Foucault „Überwachen und Strafen“). Der Mensch wird Foucault zu folge nicht nur durch seine Selbsttätigkeit zum Subjekt – subjektiviert sich nicht im luftleeren Raum –, sondern wird in seiner Subjektivierung auch durch andere Subjekte in der Welt (bspw. Eltern, Geschwister, Lehrer usw.) und die ihn umgebenden Strukturen beeinflusst. Wenn Ricken also von einer „spezifischen Matrix menschlicher Selbstbeschreibung und Deutung“ spricht meint er die Figuration der Macht als dynamisches Wechselspiel zwischen verschiednen Akteuren in der Welt – das mögliche Maß der Subjektwerdung in Bezug zur Welt und zu Anderen also, um das sich jeder selbst sorgen muss.
Dem folgend sieht Ricken auch nicht die bloße Menschwerdung – die ja zunächst nur die eigenen Kräfte betrifft – sondern die Positionierung des Subjektes im gesellschaftlichen Raum (Subjektivation) als Auftrag der Bildung. Diese Subjektivation beschreibt Ricken zweiteilig: zum einen als „Formierung des Selbst“ und zum anderen als „Formierung des Sozialen“
Unter die Formation des Selbst subsumiert Ricken zunächst die Selbst-Bildung, zeigt aber, dass das Humboldt’sche Ideal der Bildung als Freisetzung des Menschen eine faktisch nicht zu erreichende Illusion ist. So wie man einem Esel eine Möhre vorhält um ihn in dauernder Bewegung zu halten, so ist dem Menschen die Illusion der Freiheit durch Bildung ideell vors Auge gestellt. Damit aber – so Ricken weiter – richtet sich die Bildung als „Selbststeigerung“ auf die Unzulänglichkeiten jedes Subjekts, was wiederum das Bildungssystem als möglicher Heilsbringer der Bildung und Unterscheider zwischen Bildung und Unbildung legitimiert.
Die Formation des Sozialen beschreibt Ricken mit der Foucault’schen Figur der Individualisierung und Totalisierung und meint damit die Teilung und Trennung der Individuen qua Spezialisierung (Individualisierung) sowie ihre normalisierende Neuzusammensetzung qua Moral und Gesinnung (Kollektivierung). In abendländischen Gesellschaften gelten bspw. nur diejenigen als gebildet, die die Grenzen ihrer Freizügigkeit dort sehen, wo die Freiheit der anderen beeinträchtigt wird. So sind wir als Mitglieder oder Teil einer Gesellschaft dazu angehalten die Waage zwischen der absolut freien Entfaltung unserer Fähigkeiten und Kräfte einerseits und der moralischen Verpflichtungen gegenüber unserer Mitmenschen andererseits zu halten. Dies nicht zuletzt auch deswegen, weil eine Individualisierung ohne uns umgebene Menschen nicht möglich ist (siehe Machtfiguration).
IV Zusammenfassung
‚Bilde sich wer kann’ – das ist der Titel dieses Lernpapiers. Fragt sich nun: Wer kann sich bilden? Wer wird gebildet (?) und wozu eigentlich? Bildung ist ein Begriff, der im allgemeinen Sprachgebrauch fest verankert ist und selten hinterfragt wird. Mit Bildung sind Ideale und Vorstellung von Freiheit und Unabhängigkeit verbunden, die eigentlich nicht zu erfüllen sind – die zu schön sind um wahr zu sein. Schaut man nämlich näher hin, lässt sich Bildung von anderen (nicht so beliebten) Begriffen wie Subjektivation und Sozialisation gar nicht mehr wirklich unterscheiden. Bei allen geht es um die Vergesellschaftung der Individuen, um die Person-Werdung der Einzelnen, um die Rahmung der Freiheit…

Kommentare

  • Lieber Hannes,
    vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel, der gut lesbar nochmal das Wichtigste aus unserem ersten Semester zusammen fasst.
    Klasse, Danke!

  • Ich kann mich Fred und Kris da nur anschließen: vielen Dank! Besonders der gute Ricken ist mir jetzt noch etwas klarer geworden 😉

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