Sozialraum Facebook die Zweite — diaspore Beziehungsgeflechte

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Eine interessante Frage steht da im Raum herum. Eine Frage, die dem gemeinen Netizen so banal vorkommt, dass er (oder sie) sie bisweilen zu ignorieren pflegt. Die Frage lautet: Inwieweit wirkt sich das social networking über Facebook, Twitter & Co. auf die Sozialbeziehungen im physischen Nahraum aus? Oder zugespitzt: Wie ist es bestellt um den Kampf der Welten — real versus virtuell?
Wir (Netizens) sind uns natürlich völlig im Klaren darüber, dass nur Digital Outsiders den Unterschied zwischen real life und virtueller Welt ernst meinen können. Deshalb betonen wir „real life“ auch als müssten wir diese Bezeichnung stets mit Anführungszeichen versehen — als würden wir sie mit spitzen Fingern anfassen. Dabei ist die Frage nach den Auswirkungen des social networking auf unsere Demokratie, unsere Zivilgesellschaft und das freiwillige Engagement „Kern und vor allem das Herz der Zivilgesellschaft“ (Gensicke 2011: 166) — sehr wohl berechtigt. Seit dem das Internet die Beziehungspflege vom physischen Raum befreit hat, haben wir es mit einer gewissen Inflation der Freundeskreise zu tun. Was ein Freund / eine Freundin ist und inwieweit die Anzahl der Fans und Follower das jeweilige Sozialkapital abbildet, ist eine Frage mit der sich die Netzökonomen der neuen PR seit geraumer Zeit herumschlagen. Suchen diese aber nach dem ROI — dem „return on investment“ aus der Online-Kommunikation zielt unsere Frage in eine andere Richtung: Werten reine Online-Netzwerke die Beziehungen im physischen Nahraum hinsichtlich des Zugangs zu freiwilligem Engagement ab?

Befunde aus der Engagementforschung

Aus der Engagementforschung ist bekannt, dass bestehende Netzwerke im physischen Nahraum (Wohnort) mit freiwilligem Engagement in Zusammenhang stehen. Vereinfacht gesagt: Je länger man am Wohnort lebt, desto größer die Netzwerke vor Ort, desto wahrscheinlicher auch freiwilliges Engagement.[i] Erklärt wird dieser Zusammengang im Allgemeinen damit, dass Menschen mit großen sozialen Netzwerken (Freundes-, Bekannten- und Kollege!nnenkreis) eher Engagementmöglichkeiten angetragen bekommen als andere; eine Erklärung also, die prinzipiell auch für den Freundeskreis im Netz gelten müsste (dazu „Vom Flyer zu Facebook & Co.“). Sicherlich wären Untersuchungen interessant, die die Anzahl der Online-Kontakte mit dem jeweiligen Freiwilligenengagement in Verbindung bringen. Studien dieser Art müssten aber als sehr fragwürdig eingestuft werden, weil sich die Netzwerkkontakte im Internet nicht selten mit denen vor Ort überschneiden, was insbesondere bei geringerer Mobilität (lange Ansässigkeit am Wohnort) gelten dürfte. Wichtig wäre hier also zusätzlich die Struktur der Online-Beziehungen zu untersuchen, was in größeren Studien wohl kaum zu leisten ist.
Dennoch ist zu vermuten, dass diaspore Beziehungsgeflechte — meint Online-Netzwerke die nicht an den physischen Raum gebunden sind — hierzulande der Übernahme eines freiwilligen Engagements (noch) entgegen stehen. Mangels breiter Etablierung von Möglichkeiten zum Online- und Micro-Volunteering in deutschsprachigen Dritt-Sektor-Organisationen beschränkt sich insbesondere das Online-Engagement junger Menschen — jener Gruppe, für die das social networking als Online-Aktivität ganz besonders im Vordergrund steht (Shell Jugendstudie 2010) — derzeit eher auf selbstorganisierte Vorformen eines internetgestützten Engagement 2.0 (Begemann et al. 2011: 106). Hinzu kommt, dass die bloße Information über Engagementangebote nicht viel Rücklauf erzeugt. Zwar geben 80% der von Begemann et al. befragten Jugendlichen an, sich über das Internet informieren zu wollen, doch haben es gerade einmal 10% tatsächlich getan (hauptsächlich im Bereich Umwelt- und Naturschutz | ebd. 6f.).
Für die Vermutung einer hohen Erklärungskraft freiwilligen Engagements mit Beziehungsnetzwerken vor Ort spricht des Weiteren eine gewisse Unausweichlichkeit der Physis im real life, die (groß-) gruppendynamische Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen wirksam werden lassen (dazu Emmerich 2012: 68ff.). Besonders im ländlichen Raum ist die Kontrollwirkung solcher Mechanismen gut zu beobachten: Sind die ‚schrägen Vögel‘, die man in der Berliner U-Bahn trifft, höchstens eine Randnotiz wert, kann die Lederjacke des neuen Dorfpfarrers durchaus das Assoziationswesen am Kneipenstammtisch anregen und zu handfesten Streitigkeiten führen. Der Anonymität in Großstädten wie auch im Netz sei Dank kann man solcherlei Konflikten hier gut aus dem Weg gehen, in ländlichen, überschaubaren Gebieten (dem was wohl oft mit real life gemeint ist) ist das nicht so einfach; hier gilt es, sich gruppendynamisch zu verorten, Kompromisse zu finden und diese auch auszuhalten.

Potentiale diasporer Beziehungsgeflechte

Ein Zwischenfazit könnte an dieser Stelle lauten: Ja, die Inflation der Freundeskreise wertet die Bedeutung der Kontakte im physischen Nahraum als Zugangsweg zum freiwilligen Engagement ab. Insbesondere der Übernahme herkömmlicher Freiwilligenengagements steht sie heute noch entgegen. Angesichts der massenhaften Internetnutzung unter Jugendlichen wirkt dieser Befund für die Engagementförderung sicherlich nicht sonderlich optimistisch. Dennoch sollte man die Online-Kontaktpflege nicht verteufeln oder sie gar zu verhindern suchen. Einerseits ist das sich verbreitende Phänomen des social networkings ein Faktum, mit dem es sich zu arrangieren gilt (dazu „Kulturschock Social Web“), andererseits birgt das Netz auf der inszenatorischen Ebene von Gemeinschaft ein nicht zu vernachlässigendes Potential.
Die meisten Jugendszenen, von den Sportkletterern bis zur Community der Gothics (oder Gothen), inszenieren sich interaktiv im und über das Social Web (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005: 227). Sie erzeugen über ihre Netzkommunikation ein Wir-Gefühl und ordnen sich damit einer Gemeinschaft zu. Dank des Internets können diese Gemeinschaften heute mehr Menschen einschließen als es über die reine Beziehungspflege vor Ort möglich war, womit auch mehr Ressourcen für das freiwillige Engagement der Szene-Mitglieder bereit stehen (z.B. Hilfe bei der Organisation von Events, Kontakte zu möglichen Geldgebern usw.). Diese „posttraditionalen Gemeinschaften“ bilden demgemäß eine Ermöglichungsstruktur bzw. mind. eine anregende Umgebung für freiwilliges Engagement, die bislang — wenn überhaupt — nur am Rande in der Engagementforschung auftaucht (bspw. bei Begemann et al. in Form des Netz-Engagements in Online-Gruppen).

Fazit

Die Frage nach dem Kampf der Welten real versus virtuell — ist von nicht unerheblicher Bedeutung. Ihr freiwilliges Engagement ist für viele Menschen ein Anker im Gemeinwesen und geht nur gelegentlich über die lokalen Strukturen (z.B. der Ortsverein) hinaus. Nur aber weil bislang die Ortsansässigkeit resp. die Größe des jeweiligen Beziehungsnetzwerkes vor Ort als erklärender Faktor für den Zugang zu freiwilligem Engagement herangezogen wurde, heißt das nicht, dass sich das zunehmende social networking negativ auf die Engagementförderung auswirken muss. Einerseits wäre an dem Zusammenhang zwischen Ortsansässigkeit und Freiwilligenarbeit kritisch zu bemerken, dass dieser durchaus auch in die andere Richtung funktioniert (Engagement im lokalen Umfeld also mit dem Vermeiden von Mobilität zusammenhängt) und schon damit die Erklärungskraft abnimmt. Andererseits würde ein allzu negative Betonung der Auswirkung des social networkings die potentiale diasporer Beziehungsgeflechte ignorieren.
Insbesondere hinsichtlich hochgradig mobiler Menschen bietet das social networking die Möglichkeit Gemeinschaft zu inszenieren und so eine anregende Umgebung für freiwilliges Engagement zu schaffen. Die lose Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft würde sogar in mehrfacher Hinsicht positiv wirken: Einerseits würden Menschen nicht immer wieder aus ihren aufgebauten Beziehungsgeflechten herausfallen, andererseits  können sie am neuen Wohnort rasch wieder Fuß fassen und neue Kontakte knüpfen. Voraussetzung hierfür wären allerdings funktionierende Übergänge von einer Organisation in die andere bei möglichst übersichtlichen Kosten für die Engagierten (Einarbeitungszeit, soziale Integration usw.).


[i] Für hoch mobile Menschen müsste dementsprechend Umgekehrtes gelten. Hier dürften die Kontakte und Beziehungen, die ausschließlich über das Internet gepflegt werden, die der Beziehungen im physischen Nahraum überwiegen.

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