Blick ins Buch: Freiwillig zu Diensten?

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Claudia Pinl (*1941) war Journalistin, Korrespondentin der taz in Bonn und Fraktionsmitarbeiterin der Grünen im Bundestag. Heute lebt die mitt-70erin in Köln und schreibt Bücher. 2010 veröffentlichte sie z.B. „Ehrenamt: Neue Erfüllung Neue Karriere“ beim Walalla-Verlag. Ein Buch voll öffentlicher Ehrenämter, die sich mehr oder weniger gut mit dem Beruf verbinden lassen.Ich habe das Buch seiner Zeit bei einem kleinen Preisausschreiben gewonnen. Gekauft hätte ich es mir sicherlich nicht — zu flach, zu schwurbelig, zu sehr eine Anleitung zum Glücklich werden.

Nun hat Pinl ihr nächstes Buch über das Ehrenamt veröffentlicht. Bei „Freiwillig zu Diensten“ geht es allerdings nicht  wirklich harmonisch zu. Es geht um „die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit“ in Deutschland. Mit großem Pathos heißt es hier: Pinl gegen den Rest der Welt.

Wer wagt es schon, dieses freiwillige Engagement zu hinterfragen? […] ‚Zivilgesellschaft‘, ‚Engagement‘, ‚Bürgersinn‘, ‚Freiwilligenarbeit‘ sind in Deutschland hehre Begriffe, die auf ihre politische Bedeutung hin abzuklopfen so gut wie tabu ist. Man kommt sich schon sonderbar vor — ein bisschen von gestern, ein bisschen asozial — wenn man daran erinnert, dass Bildung, Kultur, kommunale Infrastruktur und soziale Sicherung öffentliche Aufgaben sind, die mit Steuergeldern finanziert werden müssen, unter anderem deshalb, um Arbeitsplätze zu erhalten (Pinl 2013: 8f.).

Pinl redet und schreibt schon seit 2011 über die systematische Nutzbarmachung freiwilligen Engagements. Seit dem europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit hat sie ihr Material zu diesem Thema mit einigen Geschichten — z.B. über das BBE, seine ‚Propagandisten des bürgerschaftlichen Engagements‘ und diese ganze ‚Goodwill-Industrie‘ — ergänzt und nun alles in einem Buch veröffentlicht.
Beim Lesen habe ich mich über diese Geschichten teilweise geärgert, teilweise haben sie mich aber auch erstaunt. Zurückgeblieben ist ein Mischmasch aus positiven und negativen Eindrücken: Im Kern trifft die Kritik zu. Das Wie der Darstellung allerdings sinkt zuweilen auf das Niveau der BILD herab. Überraschen kann das nicht! Wenn das Buch irgendwelche Wellen schlagen und in nennswerter Anzahl verkauft werden soll, muss einfach beachtet werden, dass Berichte über Ehrenamt, freiwilliges Engagement und Bürgergesellschaft in der Presse nur dann Kreise ziehen, wenn es einen Skandal gibt. Auf eben diesen Skandal legt es Pinl mit ihrem neuen Buch an.

Früher war alles besser!

Soweit sich Pinl in ihrem Leben zurückerinnern können dürfte (ich schätze mal bis 1946) ging es mit Westdeutschland bergauf. In der Nachkriegszeit entstand ein Deutschland, das zu einem Wirtschaftswunder fähig war und im Zuge dessen seinen expansiven Wohlfahrtsstaat aufbaute. Schöne Welt, spannende Welt! Der Nachkriegszeit folgte die Studentenbewegung — gut versorgte Studies, die sich über die wichtigen Dinge die Köpfe zerbrechen konnten. Bis in die 1990er Jahre war alles gut, doch es änderte sich etwas: Der deutsche Wohlfahrtsstaat schwächelte unter der Last der Widervereinigung, neue politische Ideen und Richtungsentscheidungen mussten her.
Für Pinl in der Rückschau offenbar der Anfang vom Ende. Dem Rückbau des deutschen Wohlfahrtsstaates mit seinen aufgeblasenen Professionen, die keinerlei Einmischung des Ehrenamtes zuließen, jedenfalls kann sie nichts abgewinnen — alles neoliberale Verschwörungen! So stellt sie bspw. die stärkere Betonung von Subsidiarität im Rahmen der (Neo) Liberalisierung unterschiedlicher Gesellschaftsbereiche als eine Art Rückschritt in einen vormodernen Feudalismus dar:

Das Subsidiaritätsprinzip […] ist ein tragendes Element der katholischen Soziallehre und stammt in dieser Form aus Zeiten vor der Ausbildung des modernen Sozialstaates. Nun dient es dazu, den Rückbau dieses Sozialstaates zu rechtfertigen und diesen gleichzeitig als autoritäres, bürokratisches Monster zu diffamieren (Pinl 2013: 19).

Insgesamt ist Pinls Argumentation von einer liberalistischen Grundhaltung geprägt: Der Staat ist für die Grundversorgung verantwortlich und die Bürgerinn und Bürger können sich einbringen oder es auch sein lassen — ganz so wie es zu den Hochzeiten des deutschen Wohlfahrtsstaates gewesen sein muss. Kein Grund also freiwilliges Engagement, Teilhabe, Partizipation und Mitverantwortung zu fördern. Vor diesem Hintergrund ist Pinls Kritik an der „Öffnung der europäischen Sozialdemokratie für neoliberales und kommunitaristisches Gedankengut“ („Die Wende 1989 und ihre Folgen“ S. 20f.) und das Aufwärmen alter Kamellen über die Bertelsmann-Stiftung nur nachvollziehbar („Bertelsmann übernehmen Sie! S.22f.). Früher war eben noch alles besser!

Zahlen, Daten, Fakten

Pinl kommt natürlich nicht umhin, das Ausmaß des Problems zu beziffern aus dem sie einen Skandal stricken will. Bei den Zahlen bezieht sie sich hauptsächlich auf den Engagementatlas der AMB-Generali von 2009. Erstaunlicher Weise schreibt sie durchweg von 23 Millionen Menschen, die sich in Deutschland freiwillig und unentgeltlich engagieren. Kaum ein Hinweis darauf, dass die ausgebeuteten Gratisarbeiter nur einen Teil davon sein dürften und auch kein Wort dazu, dass sich tausende Engagierte in Ehrenämtern tummeln, die es auch schon vor der Wende gab (z.B. in Sport und Kultur).

Neben dieser seltsamen Darstellung des Problemumfangs scheint Pinl, was die Historie der Debatte um freiwilliges Engagement und Ehrenamt in Deutschland anbelangt, vor allem von sich Selber — oder eben dem, was sie gerne darstellen will — auszugehen. Insbesondere die Wendejahre 1989/1990 erscheinen bei ihr eine Art Scheitelpunkt von Aufstieg und Verfall eines funktionierenden Sozialstaates: Seit den 1990er Jahren ist der Neoliberalismus auf dem Vormarsch (s.o.), seither wird das Personal in der Pflege systematisch abgebaut (S. 45) und in Schulen und Kindergärten Flickschusterei betrieben (S. 50f.). Verdächtig also, dass „die Freiwilligenarbeit in Deutschland [seit der Wende] im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit“ steht (S. 38).

Neben diesen interessanten Verknüpfungen finden sich über das ganze Buch verstreut Andeutungen, die zwar faktisch richtig sind, aber eben im Stile der BILD Missverständnisse provozieren: So schreibt Pinl, dass die freiwillig Engagierten Deutschland — alle zusammen! — 2009 ganze 4,6 Milliarden Arbeitsstunden geschrubbt haben, was insgesamt 3,2 Millionen Vollzeitbeschäftigungen entspricht. „Eine Zahl übrigens, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einer anderen Zahl aus dem Jahr 2009 aufweist: 3,4 Millionen Menschen waren damals arbeitslos gemeldet“ (Pinl 2013: 36).

Aha! 23 Millionen Freiwillige nehmen also 3,2 Millionen Menschen die Arbeit weg!? Stoff aus dem Skandale gemacht werden.

Geschichten aus dem Ehrenamt

Wie gesagt: Pinl möchte gern zeigen, dass die Förderung freiwilligen Engagements eine Form der Ausbeutung von Gratisarbeit ist, die vor allem von neoliberalen Akteuren (z.B. der Bertelsmann Stiftung) erdacht und seit den 1990er Jahren durchgesetzt wurde. Das wir uns nun tatsächlich auf dem Weg zurück in die Finsternis der Vormoderne befinden, versucht Pinl nicht nur an Zahlen, Daten und Fakten sondern auch Geschichten aus dem Ehrenamt zu zeigen. Geschichten sind ja immer gut — besonders für Skandale.

Im Buch finden sich viele Beispiele über Engagementbeschreibungen, die ziemlich nah an Stellenprofilen für bezahlte Jobs liegen. In einigen Kapiteln  konzentrieren sich die Geschichten in besonderem Maße. So auch im Abschnitt darüber, „wie Ehrenamtliche den Betrieb in Gang halten“. Erstaunt hat mich hier das Beispiel eines Bündnisses für Verbraucherbildung, das Lehrerinnen und Lehrern dabei unterstützen will, Kinder zu kritischen Verbrauchern zu erziehen und dafür mit EDEKA, REWE und McDonals kooperiert (S. 56f.). MC DONALD’S?! Ein starkes Stück und sicherlich der kritischen Diskussion wert!
Sicher, in Sachen Verbraucherschutz mit McDonals zu kooperieren ist ziemlich schräg und vom Vorwurf des Greenwashings kaum zu befreien. Ich bin mir allerdings sicher, dass es auch andere Beispiele gibt, die zeigen, dass Kooperationen mit Unternehmen und Gesellschaften durchaus sinnvoll sein können. So hat z.B. die Kooperation von Liegenschafts- und Wohnungsverwaltungen mit Freiwilligenagenturen und -organisationen wenig mit Greenwashing, denn viel mehr mit handfesten wirtschaftlichen Interessen zu tun — z.B. an einem intakten Wohnumfeld. Solche Beispiele fehlen bei Pinl — stünden sie ihrem schönen Skandal ja auch nur im Wege.

Die Goodwill-Industrie

Für jeden Skandal braucht es Schuldige, gegen die sich der Zorn der Massen richten kann. Die Bertelsmann-Stiftung, Gerhard Schröder und Toni Blair sind da schon ein guter Anfang. Das reicht aber noch nicht. Der Einfluss von ehemaligen Kanzlern und Premierministern oder Politikberatern auf das Geschehen im Hier und Jetzt ist einfach zu abstrakt. Etwas Handfesteres muss her! Etwas, dem die Menschen in ihrem eigenen Lebensumfeld begegnen und auf das sie ihren Zorn projizieren können. Etwas, das negative Assoziationen von Ruß und Dreck, Wirtschaftsmacht und Lobbyismus — kurz: von etwas Verlogenem — provoziert, ist da gerade gut genug. Warum also nicht „Goodwill-Industrie“? „Goodwill“ erinnert uns an die herzensguten Menschen in uns allen und „Industrie“ daran, dass es jene gibt, die uns um des eigenen Profites Willen schamlos ausbeuten wollen.

Ein ganzer Wirtschaftszweig ist damit beschäftigt, den Engagementwillen der Bürgerinnen und Bürger zu wecken und ihn in entsprechende Freiwilligentätigkeit zu überführen. […] ‚Bürgerschaftliches Engagement‘ ist so für viele Menschen zur hauptamtlichen Tätigkeit geworden und dient als Erwerbsquelle, zum Teil mit prekären Beschäftigungsverhältnissen (S. 63).

So besteht die Goodwill-Industrie also aus jenen bemitleidenswerten Mitarbeitenden von Freiwilligenagenturen und Ehrenamtsbüros, die von „betuchten Gutmenschen“ — Stifterinnen und Stifter, die ihre Millionen und Milliarden am Fiskus vorbei manövrieren — mehr schlecht als recht unterhalten werden, um die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit voranzutreiben (S. 69ff.). Und damit nicht genug! Die Propagandisten des bürgerschaftlichen Engagements — „professorale Brillenträger“ wie Thomas Olk (S. 76) oder naive Träumer wie Ansgar Klein (S. 74f.) — treiben diese Entwicklung auch noch voran. Sie „verbandeln“ die Akteure untereinander und halten schwurbelige Reden über die langfristigen Wirkungen des freiwilligen Engagements vor mehr oder minder exklusiver Kulisse („zu Gast bei der Deutschen Bank [und] im Berliner Rathaus“ S. 75-79).

Den größten Teil ihres 20-seitigen Kapitels über die Goodwill-Industrie widmet Pinl dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement. Ganz im Stile ihres rot-weißen Vorbildes (BILD) stellt sie das BBE als ein Konglomerat aus prekär beschäftigten Enthusiasten und den „immer gleichen Verdächtigen“ aus Politik und Wissenschaft dar, die auch nicht davor halt machen, mit in die Kritik geratenen Wirtschaftskonzernen zu kooperieren (S. 83). Skandalöse Zustände in Deutschland!

… und der Rest

Es ist klar, worauf Pinl hinaus will: Das freiwillige Engagement von Millionen von Menschen in Deutschland wird instrumentalisiert, um die Reichen zu schonen. Die Kommunen sparen sich kaputt und sind so immer mehr auf den Goodwill ansässiger Unternehmer — für Pinl eine Art Feudalherren 2.0 — angewiesen (S 83ff.). Wirtschaftsnahe Organisationen wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft kippen tonnenweise neoliberales Gedankengut in die Öffentlichkeit und fordern „Bürger an die Besen“ (S. 91). In diesem Zusammenhang steht dann auch der Auftritt des Pop-Philosophen Richard-David Precht, aus dessen populistischem Gerede über die Kevins und Achmets aus Berlin Marzahn oder Köln-Chorweiler Pinl noch mehr Stoff für die unterste Schublade herauspickt (S. 98ff.): Wenn Kevin und Achmet in Köln-Chorweiler einen Rentner verprügeln, liegt das an der unterfinanzierten Schule (hier muss der Staat was machen), nicht der sozialen Ausgrenzung von Familien aus prekären Lebensverhältnissen (hier müsste sich ja die Menschen ändern).

Pinls Buch über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit ist nicht zu empfehlen. Es ist ärgerlich mit welchen Plattitüden die Autorin herumhantiert, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Unter all den Niveaulosigkeiten und unlauteren Anspielungen aber findet sich auch eine ernstzunehmende Botschaft: Das Ehrenamt darf kein Ausfallbürge für klamme Kommunen sein. Skandalös, neu und aufregend ist diese Botschaft nicht. Spannender finde ich da die Frage, wo die Stärken des Ehrenamts liegen.

tl;dr: Früher war alles besser! Wer das glauben will findet bei Pinl Bestätigung. Wer sich ernsthaft mit freiwilligem Engagement und Ehrenamt in Deutschland befassen will, lässt es besser liegen — Zeitverschwendung.

Kommentare

  • Wie witzig.
    Gerade heute hatte ich das Buch in der Hand.
    Angezogen vom Titel, hab ich das Buch jedoch nach dem Durchblättern und Querlesen einiger Seiten enttäuscht weggelegt. Grund hierfür war der Tat etwas reißerische Stil des Buchs. Ich hatte spontan den Eindruck, dass es hier nicht um die fundierte Auseinandersetzung mit gut recherchierten Fakten und Beispielen geht, sondern mehr um die Aneinanderreihung an der Oberfläche bleibender Hypothesen, teilweise auch nur Behauptungen.
    Das ist sehr schade und eine verpasste Chance. Denn die intensive Auseinandersetzung mit Grenzen ehrenamtlichen Engagements und/oder dem Selbstverständnis von Freiwilligenagenturen ist aus meiner Sicht ein wichtiges Thema, das (noch) viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält.
    Was Engagement leistet, welcher persönliche und gesellschaftliche Nutzen damit verbunden ist, müssen wir nicht diskutieren. Das wird in Sonntagsreden der Politiker und in der aktuellen Ehrenamtsdiskussion hinlänglich betont.
    Vergessen, mißachtet oder schlicht nicht wahrgenommen wird, dass Engagement Rahmenbedingungen und Strukturen braucht, um attraktiv und leistbar zu bleiben. Die Diskussion hierüber und über Grenzen freiwilligen Engagements fände ich wirklich spannend.

    • Hallo Karin,
      ich glaube schon, dass wir diskutieren müssen, was den eigentlich die Stärken des freiwilligen Engagements sind. Da gibt es viele und ich glaube, oft werden die Argumente für den Einbezug Freiwilliger mit den Gründen dafür verwechselt.
      Argumente zielen z.B. auf einen wirtschafltichen Betrieb. Damit meine ich nicht nur ‚billige Arbeitskräfte‘ (wir wissen, dass es schwarze Schafe gibt), sondern auch die Aufwertung der Dienstleistungen oder das Vertrauenstiftende des Ehrenamts.
      Gute Gründe dagegen, zielen nicht auf den Vorteil einiger, sondern aller (oder der meisten). Ich meine damit z.B. zivilgesellschaftliche Funktionsweisen auf die z.B. die Deutsche Welle bei ihrem Beitrag über das Ehrenamt als Lückenbüßer> anspricht:

      Das ist das große Potential des Ehrenamts: es schließt keine Versorgungslücken, sondern es macht sie ausfindig. Doch bei der Tafel-Bewegung ist der Impuls im ehrenamtlichen Umfeld stecken geblieben. Die Notwenigkeit der Tafeln nimmt nicht ab, im Gegenteil, das System scheint sich zu verfestigen.

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