Gutes Leben im demographischen Wandel?

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Dies ist mein Beitrag zur laufenden NPO-Blogparade, ein Online-Diskussionsformat, das diesmal vom 03. bis zum 27 April läuft. Bei der NPO-Blogparade diskutieren Bloggerinnen und Blogger über Dritt-Sektor- und Zivilgesellschaftsthemen — nicht selten mit einem Hang zu Social Media und Web 2.0. Wenn du mitdiskutieren willst, kannst du das hier in den Kommentaren, in deinem eigenen Blog, als Gastblogger oder in der Xing-Gruppe “Zivilgesellschaft und Internet” gern tun….

Die aktuelle NPO-Blogparade dreht sich um Netzwerke: Netzwerke, die den demographischen Wandel gestalten. Ganz praktisch fragt Brigitte Reiser von nonprofits-vernetzt: “Netzwerke aufbauen — Chancen und Hindernisse?”

Gestalten oder Reagieren? Worum es geht:

Vor der Praxis allerdings steht für mich die grundsätzliche Frage, wie und welche Netzwerke den demographischen Wandel überhaupt gestalten können. Von der Robert Bosch Stiftung habe ich dazu ein interessantes Papier gefunden, in dem neben “kleinen Lebenskreisen” die Subsidiarität und Solidarität in den Mittelpunkt der Gestaltung des demographischen Wandels gestellt wird. Als kleine Lebenskreise werden hier Patchworks aus Nachbarschaft und  Familie bezeichnet, die helfen, den (Arbeits-) Alltag zu bewältigen.

Da wäre etwa Henriette, 35-jährige Juristin und alleinerziehende Mutter des fünfjährigen Jonas. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Sohn und zwei weiteren Familien in zwei übereinanderliegenden Wohnungen in Berlin-Neukölln. Insgesamt wohnen dort fünf Erwachsene, die sich mit der Betreuung von fünf Kindern abwechseln. Zwei werden morgens in den Kindergarten gebracht, zwei gehen zur Schule, eins ist noch nicht mal ein Jahr alt und bleibt momentan bei der Mutter zu Hause. Wenn einer der Erwachsenen spontan eine Dienstreise oder einen Kinobesuch plant, ist das nie ein organisatorisches Problem (S. 8).

Ganz klar: Nachbarn, Freunde oder Familienangehörige — ein Netzwerk auf die man sich verlassen kann — helfen, den Alltag zu bewältigen und auch spontan den Anforderungen des Arbeitslebens gerecht zu werden. Man kann das auch Kapitalumwandlung nennen — vermittels einigen (organisatorischen) Aufwands an ‘Transformationsarbeit’ wird aus sozialem Kapital ökonomisches … Doch Bourdieu (1983: 195ff). beiseite! Ist das, was mit der Gestaltung des demographischen Wandels gemeint ist? Geht es hier nicht viel mehr darum, auf die Herausforderungen des demographischen Wandels zu reagieren? Und geht es nur ums reagieren?

Wenn es um die Gestaltung des demographischen Wandels geht, geht es m.E. um mehr als nur fit und beweglich (mobil) zu sein. Es geht um mehr, als nur irgendwie alles unter einen Hut zu bringen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Für mich geht es bei der Frage, wie der demographische Wandel gestaltet werden kann, sodass sich mit dessen Auswirkungen, die Uwe Amrhein trefflich skizziert, gut leben lässt. Es geht also um die Frage nach dem guten Leben.

Kritische Theorie? Demographischer Wandel und Beschleunigung:

Ohne hier zu weit auszuholen und die Theorie der gesellschaftlichen Beschleunigung auszurollen, ist es doch sinnvoll dazu noch mal bei Hartmut Rosa nachzuschauen. Der entwirft in seinem Buch “Beschleunigung und Entfremdung” einen Ansatz kritischer Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, wobei es ihm im Kern um das gute Leben geht.

In diesem Buch werde ich zu jener Frage zurückkehren, die uns Menschen wichtigsten ist: der Frage nach dem guten Leben -- und der Frage danach, warum wir eigentlich kein gutes Leben haben.

Die Kritische Theorie ist vor allem durch die Frankfurter Schule bekannt. Adorno und Horkheimer sind hier zwei Namen, die immer mit genannt werden. Doch wie dem auch sei! Eine leitende Absicht der Kritischen Theorie ist nach Axel Honneth die Identifikation soziale Pathologien der Gegenwart. Dem folgt auch Rosa und spezifiziert: “das reale menschliche Leiden [sei] der adäquate normative Ausgangspunkt” für seine Überlegungen (S. 72).

Doch welches Leiden beschert uns der demographische Wandel? Leiden wir jetzt im Moment daran, dass es immer weniger Kinder und immer mehr ältere — und vor allem immer älter werdende — Menschen gibt? Gleichwohl es mich beschäftigt, belastet mich der demographische Wandel persönlich weder psychisch noch physisch — jetzt im Moment. Das sieht bei anderen Menschen sicherlich anders aus. Seniorinnen und Senioren, die sich die Zuzahlung zu ihren Medikamenten nicht leisten können oder mangels Angehöriger vereinsamen, bekommen den demographischen Wandel sehr wohl zu spüren. Können wir deshalb von einer Pathologie sprechen?

Jain! Der demographische Wandel ist kein ‘krankhafter und abnormer Vorgang’ (wie “Pathologie” in der Wikipedia erläutert wird). Er ist das nachvollziehbare Resultat der Multioptions- oder Risikogesellschaft (Gross bzw. Beck), die dankenswerter Weise immer neue Möglichkeiten entdeckt, der Natur ein Schnippchen zu schlagen: Auf der einen Seite der medizinische Fortschritt, die gesündere Ernährung und andere lebensverlängernde Maßnahmen — auf der anderen Seite die technischen Errungenschaften, die das Leben ‘einfacher’ machen sollen (ich denke gerade an das Cyborg Manifest).

Pathologisch ist dagegen, dass wir, wie Rosa feststellt, kein gutes Leben haben, obwohl wir gern eins hätten und prinzipiell auch die Möglichkeit dazu haben. Pathologisch ist, dass uns unsere heiß geliebten technischen Errungenschaften — sozusagen als Nebenwirkung — eine soziale Beschleunigung sowie eine Beschleunigung des Lebenstempos bescheren (Rosa S. 15ff), die uns das was wir wirklich wollen — vielleicht Zeit mit den Lieben verbringen oder bloggend über die Welt nachdenken — in eine unbestimmte Zukunft verschieben lässt (Wer hier nicht an Friedrich Nietzsche denkt …).

Kritische Praxis: Liebevolle Verwaltung

Und damit sind wir beim praktischen Problem angelangt: Henriette, die 35-jährigen Juristin von oben, lässt ihren Jonas von den Nachbarn versorgen, um so viel wie irgend möglich in ihrem eigenen (Arbeits-) Leben unterzubringen. Wird Jonas jemals ernsthaft an eigenen Nachwuchs in nennenswerter Zahl denken, wenn er sich an seine liebevoll verwaltete Kindheit erinnert? Beschert uns die gesellschaftliche Beschleunigung vielleicht eine Generation Maggie Simpsons, die von ihren Eltern mit der gleichen Sorgfalt behandelt wie der heimische Staubsauger (Eric Bronson 2009: 60)? In der aktuellen merz zeigt Verena King, dass das Ringen um Effizienz, die Priorisierung des Dringlichen und die Entgrenzung veränderte Aufmerksamkeiten und Relevanzen nach sich ziehen, die die Entwicklung von Kindern durchaus beeinflussen (ebd. 2014: 30ff).

Und was für die Kleinen gilt, gilt auch für die Alten, Armen, Kranken und Behinderten: Hilfe wo Hilfe nottut und ansonsten so tun als ob nichts wäre. Für die leistungsfähigen Middleager, die sich gekonnt von der liebevollen Verwaltung distanzieren können, ist das freilich eine willkommene Hilfestellung für die Autonomie, die prinzipiell gutes Leben ermöglicht. Für jene, denen die Distanz fehlt, weil sie andauernd auf liebevolle — manchmal auch nur gut gemeinte — Verwaltung angewiesen sind (ich denke gerade an das Arbeitsamt), ist das nicht so einfach.

Vernetzt euch! bildet Banden!*

Zeit zu spenden ist im Moment die meist propagierte Antwort der modernen Bürgergesellschaft auf das Problem der liebevollen Verwaltung. Ein bisschen Normalität in den Alltag einsamer Menschen bringen oder den Kindern geben, wozu die Eltern nicht in der Lage sind, ist aber nicht genug. Allein die Symptome zu lindern reicht nicht aus, denn auch die wertvolle Zeitspende will effizient eingesetzt werden, dort wo sie am dringendsten gebraucht wird und möglichst immer irgendwie verbunden mit dem täglichen Workload (entgrenzt). Zeit ist schließlich Geld!

Keine Frage: Ehrenamt, freiwilliges Engagement — auch spontanes und kurzfristiges on-site oder online  — ist wichtig. Gute Nachbarschaft auch und Netzwerke mit Leuten, die sich auf einander verlassen können, sowieso. Die Frage ist aber, wozu sie dienen. Dienen die “kleinen Lebenskreise” allein dazu, die liebevolle Verwaltung effizient zu organisieren, um stärker zu beschleunigen als alle anderen, verhelfen sie niemandem zum guten Leben — nicht jenen, die das, was sie wirklich wollen, in eine unbestimmte Zukunft verschieben und erst recht nicht jenen, die auf den “rutschenden Abhängen” (Rosa 2005: 176ff.) zurückbleiben.

Was also tun? Entschleunigen? Slowfood, Sabatical und ein geh’ mir aus der Sonne für jedermann? Unmöglich! Oder?

Rosa zählt fünf Formen der Entschleunigung:

  1. Entschleunigung aufgrund natürlicher Geschwindigkeitsgrenzen, die allerdings nicht so fest stehen, wie man glauben mag (S. 47f.)
  2. Entschleunigungsoasen, die, wenn nicht vollkommen romantisch verklärt, in der Regel als rückständig wahrgenommen werden (S. 48f.)
  3. Entschleunigung als dysfunktionale Nebenfolge sozialer Beschleunigung; indes das, was uns tagtäglich auf die Palme bringt.
  4. Intentionale Entschleunigung, die (a) eher den Vermögenden vorenthalten bleiben, die etwas mit dem Zeitwohlstand anzufangen wissen und (b) eigentlich nicht zur Ent- sondern zur Beschleunigung dienen (S. 50ff.)
  5. Strukturelle und kulturelle Erstarrung, in der alles so weit beschleunigt und flexibilisiert wurde, dass nichts mehr geht — der “rasender Stillstand” (S. 53f.)

Keiner dieser Varianten — außer dem als Fluchtpunkt der Beschleunigung beschriebenen “rasenden Stillstand” — misst Rosa ein wirklich bremsendes Potential bei. Er rechnet aber auch nicht mit Solidarität und Subsidiarität — den Stärken “kleiner Lebenskreise”. Und wie viele andere rechnet er auch nicht damit, dass sich diese Ressourcen für das gute Leben durch politische Entscheidungen stärken lassen; z.B. mit einem modernen Arbeitsbegriff, der auch Familienarbeit einschließt oder einer Grundsicherung, die diesen Namen verdient …

Ich persönlich sehe in der intentionalen Entschleunigung durchaus Potential für das gute Leben. Werden monatelange Sabaticals mehr Menschen möglich gemacht als das derzeit der Fall ist und würde die Tätigkeit, die in dieser Zeit geleistet wird als (gemein-)nützige Arbeit verstanden, wäre vielen Menschen geholfen. Aber auch das ist eine politische Frage!

Meine Antwort also auf die Frage, wie und welche Netzwerke den demographischen Wandel gestalten können, ist folgende: Netzwerke, die sich auf allen politischen Ebenen für das gute Leben einsetzen, sind diejenigen, die den demographischen Wandel gestalten. Auf kommunaler Ebene kann das durchaus das gemeinsame ‘Zeit-Freischaufeln’ für das Freiwilligenengagement (nicht nur Zeitspende!) sein. Auf Länder-, Bundes- und Europa-Ebene dagegen geht es um Lobbyarbeit — und die braucht mehr als Netzwerke, die braucht Banden.

* Währnend “Bildet Banden!” eine recht bekannte Parole aus den 1970er Jahren ist, ist der Titel “Vernetzt Euch!” von Lina Ben Mehnni weniger bekannt. Die Libysche Bloggerin berichtet in Ihrem Essay eindrücklich von der Netzwerkarbeit, die ganz wesentlich zum Ende des Gaddafi-Regiems beigetragen hat.

tl;dr: Bei der Gestaltung des demographischen Wandels geht es um nicht weniger als das gute Leben, dessen Gelingensbedingungen urpolitische Fragen berühren. In diesem Sinne: Vernetzt euch, bildet Banden.

Kommentare

  • Den demografischen Wandel zum Anlass für Entschleunigung zu nehmen, – das ist eine gute Idee. Viele Entwicklungen zeigen in die andere Richtung, aber vielleicht formiert sich hier eine Gegenbewegung aus der Zivilgesellschaft heraus.

  • … das ist gar nicht so unwahrscheinlich. Die heute ach so pragmatische Jugend wird sich den ihr auferlegten Druck, wettbewerbsfähig zu sein (hoffentlich) nicht mehr lange gefallen lassen und unterschiedliche Formen des Ausstiegs finden. Fragt sich nur, ob die dann zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen oder allein Vermögenden vorbehalten bleiben.

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