Blick ins Buch — Psychologie der Freiwilligenarbeit

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Im Sommer dieses Jahres erschien „Psychologie der Freiwilligenarbeit. Motivation, Gestaltung und Organisation“ im Springer Verlag — ein ‚must have‘ für das Freiwilligenmanagement! Ich habe mir den Band angesehen und einiges Interessantes darin gefunden. Doch eins nach dem anderen:

Vorwort: Was von diesem Buch (nicht) zu erwarten ist

In ihrem Vorwort machen die Herausgeber des Bandes Theo Wehner und Stefan Güntert — Leiter und Oberassistent der Forschungsgruppe Psychologie der Arbeit an der ETH Zürich — deutlich, dass die Freiwilligenarbeit in den einzelnen Beiträgen nicht aus dem ‚üblichen‘, sondern einem arbeitspsychologischen Blickwinkel in Augenschein genommen werden.

Analysiert wird im Feld der Freiwilligenarbeit und in der Gesellschaft in erster Linie das stagnierende oder gar abnehmende Phänomen der Freiwilligkeit. Bewertet werden primär die Befunde aus persönlichen Beobachtungen oder statistischen Erhebungen (Freiwilligenmonitore). Interveniert wird derzeit häufig mit Rekrutierungssystemen, dem Gebrauch von Anreizen, und mit Professionalisierungsstrategien, wie wir sie aus dem Personalmanagement kennen …

Was in der aktuellen Diskussion um die Freiwilligenarbeit also fehlt — so die Autoren –, sind fundierte Erkenntnisse aus der Arbeitspsychologie. Und in der Tat: Diese Analysen können die anderer Untersuchungen (z.B. auf der Grundlage statistischer Erhebungen) fundiert untermauern, ausdifferenzieren oder ihnen sogar wiedersprechen. Was — da scheinen sich die Herausgeber sicher — aktuell nicht fehlt, sind praktische Arbeitshilfen für das Freiwilligenmanagement.

Es werden keine Tool-Kits für die erfolgreiche Rekrutierung und Bindung von Freiwilligen angeboten.

Kurzum: Wer sich „Psychologie der Freiwilligenarbeit“ zu Gemüte führt, kann zahlreiche Bestätigungen hinlänglich bekannter Thesen, Perspektivwechsel auf bereits beschriebene Phänomene und kleinere Überraschungen erwarten. Praktische Arbeitshilfen dagegen muss man in den 15 Beiträgen des Buches mit der Lupe suchen, findet aber hier und da hilfreiche Anregungen zum Nachmachen und ‚Selber-Basteln‘.

Auftakt: Zum Unterschied von Erwerbs- und Freiwilligenarbeit

Ein eindrückliches Beispiel für den Perspektivwechsel auf bereits umfangreich beschriebene Phänomene, ist die auf die Freiwilligenarbeit selbst. Hannah Arendt zumindest ist mir in diesem Zusammenhang noch nicht begegnet. Sie aber liefert Wehner und seinen Kolleg!nnen mit ihrer „Vita Activa“ („vom tätigen Leben“) die Grundlage für die Unterscheidung zwischen Erwerbs- und Freiwilligenarbeit.

Arendt beschreibt drei Arten des Tätigseins: das Arbeiten, dass vordergründig der (materiellen) Existenzsicherung dient, das Herstellen, dass dem natürlichen Kreislauf der Natur, dem Biologisch-Vergänglichem, das Künstlich-Beständige entgegensetzt und all den Rest — die Handlung — der sich „ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen [abspielt]“ (Arendt, zit. nach Wehner et al 2015:16).

Freiwilligenarbeit, verstanden in diesem Sinne, ist also gar keine Arbeit. Bürgerschaftliches, freiwilliges Engagement oder Ehrenamt dient nicht — und schon gar nicht vordergründig — der (materiellen) Existenzsicherung. Viel eher treffen Arendts Attribute des Handelns auf die Freiwilligenarbeit zu, wobei auch ihre politische Dimension nicht unberücksichtigt bleibt.

Und so beziehen Wehner und seine Kolleg!nnen die Freiwilligenarbeit — oder besser die „frei-gemeinnützige Tätigkeit“ — vor allem auf Arendts Handlungsbegriff, um sie deutlich von der Erwerbsarbeit abzugrenzen. Ohne Not, wie ich finde, übergehen sie dabei die ‚herstellende‘ Freiwilligenarbeit (z.B. im Katastrophenschutz), bei der sehr wohl zwischen Materie, Material und Dingen vermittelt wird. Vielleicht ist man hier der Vorstellung etwas auf den Leim gegangen, dass Ehrenamt vorrangig soziales Engagement sei, bei dem der Aufbau und die Pflege von Beziehungen im Mittelpunkt stehen (z.B. Besuchs- und Patenschaftsprojekte).

Doch wie dem auch sei! Der Punkt ist, dass sich freiwilliges Engagement und Ehrenamt als Tätigkeiten grundlegend von der Erwerbsarbeit unterscheiden. Diese Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Band und wird immer dann aufgenommen, wenn Methoden und Werkzeuge der (Erwerbs-) Arbeitspsychologie auf die Freiwilligenarbeit angewendet werden.

Motivation: Zu den Funktionen der Freiwilligenarbeit

Wie Wehner und Güntert in ihrem Vorwort richtig bemerken wird aktuell viel darüber diskutiert, wie Menschen in die Freiwilligenarbeit gebracht werden können (Stichwort „Engagementpotential“). So wird immer wieder nach der Motivation zum freiwilligen Engagement gefragt und sehnlichst auf einen Zaubertrick oder ein Wundermittel gehofft, mit dem die Sache ein für alle Mal zu klären sein könnte. Dass das freilich ein Wunschtraum ist, ist den meisten sonnenklar. Doch bleibt die Frage, was den zu versprechen und dann auch einzulösen sei, um Menschen zu einem freiwilligen Engagement zu motivieren.

Die Antwort darauf findet man in der „Multifunktionalität der Freiwilligenarbeit“ (Oostlander/Güntert/Wehner 2015:60ff.) — heißt im funktionalen Ansatz von Clary et al. (1998) und dem Volunteer Function Inventory. Der funktionale Ansatz folgt der grundlegenden Erkenntnis, dass jeder Mensch mit seinem Tun irgendeinen Nutzen, einen „return on engagement“, anstrebt. Und da sich der Wert dieses Nutzens, also auch der Aufwand, der dafür betrieben wird, jeweils subjektiv bestimmt, wird man in der Praxis nicht umhin kommen, die Motivation der Engagierten selbst zu erforschen.

Der funktionale Ansatz von Clary et al. und insbesondere die ‚Übersetzung‘ des Volunteer Function Inventorys auf den deutschsprachigen Raum von Oostlander et al. liefert dazu etwas Inspiration.

Funktionen der Freiwilligenarbeit
Volunteer Function Inventory nach Clary et al. mit Beispielen von Oostlander et al. (Oostlander/Güntert/Wehner 2015: 62)

Organisation: Zu den Kriterien guter (Freiwilligen-) Arbeit

Menschen zu einem freiwilligen Engagement zu verhelfen, ist eine Herausforderung, sie dann an die Organisation zu binden, ihr Engagement zu verstetigen und weiterzuentwickeln eine andere. Personal- und Organisationsentwicklung sind hier die Stichworte, zu denen auch die Arbeitspsychologie etwas beizutragen hat. Oberflächlich betrachtet geht es dabei vor allem um die Gestaltung von Aufgaben, die die allgemeine Zufriedenheit der Freiwilligen und ihre Freude am Engagement steiget. Mit von der Partie sind aber auch Indikatoren guter Freiwilligenarbeit wie die Identifikation mit der Organisation und organisationsbezogenes Engagement (z.B. Gremienarbeit), die ich bisher nicht mit den Motivatoren, Moderatoren und Hygienefaktoren aus dem Job Diagnostic Model (JDM) von Hackman und Oldham zusammengebracht habe.

Die Untersuchungsergebnisse zur „Gestaltung von Aufgaben und organisationalen Rahmenbedingungen in der Freiwilligenarbeit“ (van Schie/Güntert/Wehner 2015: 131ff.) fand ich entsprechend aufschlussreich. Auch hierin stecken einige Anregungen für das Freiwilligenmanagement:

  • Die allgemeine Zufriedenheit im Engagement wird vor allem durch die Vielfalt im Engagement (JDM-Motivator) und transparente Information der Freiwilligen beeinflusst.
  • Die Freude an der jeweiligen Tätigkeit wird ebenso von der Vielfalt aber auch von der Bedeutsamkeit der Aufgabe und den Rückmeldungen dazu (alles JDM-Motivatoren) beeinflusst.
  • Die Identifikation mit der Organisation — heißt auch Bindung an die Organisation — wird maßgeblich von der Wertkongruenz, also der Schnittmenge der Wertorientierungen der Freiwilligen und den gelebten Werten der Organisation, bestimmt, wobei die Vielfalt der Tätigkeit sowie die Anerkennung durch die Mitarbeitenden der Organisation und dem jeweiligen persönlichen Umfeld ebenso eine Rolle spielen.
  • Für das organisationsbezogene Engagement ist die Wertkongruenz ebenso wichtig, hier spielen aber auch die JDM-Motivatoren Entscheidungsautonomie und Vielfalt eine Rolle. Außerdem ist die Anerkennung des Engagements im persönlichem Umfeld der Ehrenamtlichen wichtig.

Schluss: Was sonst so (nicht) in diesem Buch zu finden ist

Psychologie der Freiwilligenarbeit ist ein lohnenswerter Schmöker. Die neun Cent pro Buchseite sind gut investiertes Geld. Drei größere Findlinge habe ich hier kurz vorgestellt, viele mehr kleinere stecken noch drin; einmal von vorn nach hinten durchgeblättert:

  • Der Hinweis auf den Selbsttest „gute Arbeit“ vom DGB (S. 13). Unbedingt durchklicken und zwar regelmäßig!
  • Die Rolle der Selbstbestimmung im freiwilligen Engagement (S. 77ff). Nicht unwesentlich für gelingende Anerkennung und Wertschätzung.
  • Die Erweiterung des Volunteer Function Inventory um soziale Gerechtigkeit (S. 95ff). Ein Strohhalm, den die Motivations-Zaubertrick-Suchenden greifen könnten.
  • Eine Sammlung verschiedener Befunde zu Freiwilligenarbeit und Gesundheit (S. 109ff). Ein Kapitel für Gläubige.
  • Ein Prozessmodell zum „Hineinwachsen“ in längerfristiges Engagement (S. 133). Mal was anderes als der Kulturschock.
  • Die Findings zu neuen Formen der Freiwilligenarbeit (S. 195ff). Ein höchst interessant-ärgerliches Kapitel.
  • Der Serviceteil in dem die Grundlagen zur Statistik erläutert werden (S. 281ff). Ein echter Service!

Nicht zu finden ist das Online-Volunteering. Im Kapitel zu neuen Formen der Freiwilligenarbeit beschreiben Nefeind, Güntert und Wehner zwar die drei Entwicklungslinien neuer Formen der Freiwilligenarbeit, wozu auch die „virtuelle Freiwilligenarbeit“ (ebd. 2015: 197) zählt, nehmen aber nur die zwei „zahlenmäßig wichtigsten neuen Formen der Freiwilligenarbeit“, die Eventfreiwilligenarbeit und den Voluntourismus in Augenschein.

Voluntourismus! Zahlenmäßig wichtig? Ich dachte ich lese nicht richtig. Da werden 10.000de junger Menschen angeführt, die aus dem deutschsprachigen Europa für ein paar Tage, Wochen oder Monate zu einem Voll- oder Teilzeitdienst im Ausland aufbrechen und von drei- bis vierstelligen Eurobeträgen schwadroniert, die sie dafür bezahlen. Nur mal so zur Info: In der deutschsprachigen Wikipedia sind über 160.000 Online-Volunteers aktiv (Stand Juni 2015) … Man man man! Alles muss man selber machen 🙂

tl;dr: „Psychologie der Freiwilligenarbeit“, ein Band voller Anregung und Bestätigung für das Freiwilligenmanagement, dem auch die Prise Provokation zum Selber-Machen nicht fehlt.

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