Es ist Sonntag. Die Mittagsstunde rückt näher. Ich sitze an meinem Küchentisch und habe die Frühstücksutensilien immer noch nicht weggeräumt. Ich hatte mir gedacht, ich schaue erstmal in meine E-Mails und räume ein bisschen die private Inbox auf. Unter der Woche komme ich einfach nicht dazu. Mitten in der begonnen Putzaktion lächelt mich ein Google Alert frech an und wischt mir die restliche Hausarbeit sauber von der Prioritätenliste: Auf defacto.expert hatten Maximilian Filsinger und Markus Freitag einen Artikel zu „Digitalisierung und Zivilgesellschaft“ veröffentlicht.
Markus Freitag ist Professor für politische Soziologie in Bern und als langjähriger Leiter des Schweizer Freiwilligenmonotors eine durchaus ernst zu nehmende Figur in der Zivilgesellschaftsforschung. Maximilian Filsinger ist ebenso von der Uni Bern. Er ist dort Doktorand am Institut für Politikwissenschaft und befasst sich unter anderem mit zivilgesellschaftlichem Engagement und generalisiertem Vertrauen („Sozialkapital“).
Internet versus Ehrenamt
Die Seite „DeFacto“ war mir neu und der Claim dazu – „belegt, was andere meinen“ – nicht ganz geheuer. Der Beitrag von Filsinger und Freitag allerdings machte einen anständigen Eindruck. Ganz so, als würde man sich bemühen, universitäre Forschung einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Und in der Tat lässt sich der Text gut lesen und am Ende findet sich ein Link zu einem ausführlicheren Artikel der Autoren in der Voluntas, einem wissenschaftlichen Journal zu Freiwilligenarbeit und Nonprofit-Organisationen.
Filsinger und Freitag schreiben in ihrem Beitrag darüber, wie die Internet- und Social Media Nutzung mit der Übernahme freiwilligen Engagements zusammenhängt. Sie gehen dabei – und da passt der DeFacto-Claim dann doch ganz gut – von einem negativen Zusammenhang aus:
Wir untersuchen den Zusammenhang zwischen Internetnutzung und Vereinsengagement auf Grundlage einer zukunftspessimistischen Sichtweise, wonach Internetnutzung zu einer Abnahme sozialer Beziehungen in der realen Welt führt und somit soziale Isolation wahrscheinlicher macht. Diese Annahme basiert vor allem auf dem Gedanken, dass Freizeit als eine begrenzte Ressource zu verstehen ist, um die eine leicht zugängliche Internetaktivität und eine anspruchsvolle Freiwilligenarbeit konkurrieren.
Zwar lässt mich die These, dass die Internetnutzung soziale Beziehungen „in der realen Welt“ schwinden lässt, ein bisschen mit den Augen rollen, doch im Zusammenhang mit der Übernahme – nicht der Ausübung (!) – eines freiwilligen Engagements ist die Sache einen näheren Blick wert.
Diese Jugend!
Zum Zusammenhang von Internet- und Social Media Nutzung im freiwilligen Engagement hatte ich ja an den Daten des Freiwilligensurveys 2014 gezeigt, dass es hier scheinbar keine negativen Effekte gibt. Ganz im Gegenteil! Freiwillig Engagierte, die das Internet und die Sozialen Medien in ihrem Engagement nutzen, investieren im Schnitt mehr ihrer Freizeit als jene, die das Internet in ihrem Engagement nicht nutzen.
Wie aber steht es um die Wahrscheinlichkeit überhaupt ein freiwilliges Engagement zu übernehmen, wenn diese Option der Freizeitgestaltung mit der Internet- und Social Media Nutzung konkurrieren muss?
Um das herauszufinden rechnen Filsinger und Freitag mit den Daten des Schweizer Haushalts-Panels, einer repräsentativen Längsschnittstudie vergleichbar mit dem Sozioökonomischen Panel in Deutschland, eine logistische Regression. Der Regressand (die abhängige Variable) ist dabei die Ausübung oder Nicht-Ausübung eines freiwilligen Engagements, die unabhängigen Variablen sind Alter sowie Intensität und Art der Internetnutzung.
Heraus kommt dabei unter anderem ein Graph, der zeigt, dass es wohl nicht ganz so einfach ist: Die Internetnutzung wirkt nicht per se negativ auf die Übernahme-Wahrscheinlichkeit eines freiwilligen Engagements. Bei älteren Menschen wirkt sie sogar positiv! Bei jüngeren Menschen allerdings scheint die These von der Konkurrenz zwischen Internet und Freiwilligenengagement zuzutreffen. Warum?
Daddeln statt Vereinsengagement
Filsinger und Freitag schreiben den negativen Effekt der Internetnutzung auf die Übernahme-Wahrscheinlichkeit eines freiwilligen Engagements vor allem unterschiedlichen Nutzungsarten zu. Soziale Meiden führen ihnen zufolge nicht in die Isolation sondern sind der Ausweitung sozialer Kontakte dienlich und machen so die Übernahme eines freiwilligen Engagements wahrscheinlicher.
Vernetzende Aktivitäten über das Internet verhindern eine soziale Abgeschiedenheit, da sie im Gegensatz zu reinen Streaming Plattformen wie Netflix, sozialen Austausch ermöglichen. Diese Internetnutzer sind somit nicht isoliert, sondern ergänzen ihre offline Beziehungen mit online Kontakten.
Wie so oft ist es also nicht die Quantität sondern die Qualität der Internetnutzung, die den Ausschlag gibt. Rein konsumierende Internetnutzung geht mit weniger Engagement einher als aktive Vernetzung. Insbesondere bei jungen Menschen scheint das zu gelten. Die daddeln halt den ganzen Tag! Vielleicht aber finden sie das olle Vereinsengagement der Erwachsenen auch einfach nur piefig. Klaus Farin zumindest scheint das so zu sehen!
tl;dr: Für junge Menschen ist das Netz attraktiver als Vereinsengagement. Think about it!
Kanne nicht aber auch so sein, dass Verensengagement, wie wir es kennen – als eine Reverenz auf die bürgerlichen Freiheiten den 19. Jahrhunderts – im Vergleich zum Entertainment im Netz einfach strunzend ist?
Möglicherweise ist das kein Status quo, sondern die Grundlage, adäquate Engagementformen zu entwickeln, die den Mitgliedern Freude machen und Wirkung im Sinne von Entertainment erzielen?
Ja, so sehe ich das auch! Ich habe mir den VOLUNTAS-Beitrag besorgt und nochmal gesehen, dass es um “formales Engagement” geht, das in der Schweiz wohl noch Recht weit verbreitet ist (37%). Das Ergebnis allerdings, dass der bloße Konsum von Netflix und Co. diesem Engagement tendenziell entgegen steht, verwundert mich wenig. Engagement kommt in dieser Welt nicht vor; nicht mal als Werbung, geschweige denn als konkrete Möglichkeit. Neben adäquaten Engagementmöglichkeiten, vermute ich entsprechend, sollten Engagementträger, verstärkt in digitalen Sozialräumen anzutreffen sein..