Als Willy Brandt 1969 erklärte "Wir wollen mehr Demokratie wagen!" war das weit mehr als ein Zugeständnis an die 68er-Generation. Es war eine Aufforderung in unterschiedliche Richtungen: in Richtung von Politik und Verwaltung, dem Volk vernünftiges Handeln zuzutrauen; in Richtung der Bürger:innen, kritisch mitzudenken. Bruno S. Frey und Oliver Zimmer nehmen diese historische Regierungserklärung zum Ausgangspunkt ihrer Kritik am repräsentativen System in ihrer Darstellung eine moderne Neuauflage der Aristokratie.
Das repräsentative Regierungssystem, so Frey und Zimmer, ist mit der Demokratie nicht vereinbar. Ob nun paternalistisch, nationalistisch oder im Sinne der Expert:innen-Herrschaft gerechtfertigt: Das repräsentative Regieren schränkt die demokratische Teilhabe aller an allem ein. Und doch ist die 'repräsentative Demokratie' gängige Praxis von den einen als Voraussetzung für das Funktionieren großräumiger Demokratien verstanden, von den anderen als Instrument genutzt, "um sich die Demokratie vom Leib zu halten" (S. 13).
Lange aber wird das nicht mehr gut gehen! Das Repräsentationsdefizit westlicher Demokratien bereitet schon eine ganze Weile fruchtbaren Boden für allerhand totalitaristischer Phantasien. Die Vorschläge des politischen Ökonomen Bruno S. Frey und des Historikers Oliver Zimmer, wie mehr Demokratie gewagt und Teilhabe für alle gewährleistet werden könnte, zielen in eine andere Richtung:
  1. "Problemorientierte politische Einheiten" (S. 93-108): Mit der Idee der FOCJ (Functional, Overlapping, Competing, Jurisdictions) schlagen Frey und Zimmer vor, den Wettbewerb der besten Ideen, die eine Demokratie ausmachen sollte, nach marktwirtschaftlichen Prinzipien zu organisieren. Kurz gesagt: Demjenigen FOCJ, das ein bestimmtes Problem am besten löst, werden sich die meisten Bürger:innen anschließen. Eine territorial definierte Alleinzuständigkeit scheint im Zeitalter der Digitalisierung ohnehin etwas überkommen.
  2. "Flexibles demokratisches Abstimmungssystem" (S. 109-116): Mit der Idee der flexiblen Entscheidungsregel schlagen Frey und Zimmer vor, Abstimmungsergebnisse nicht mehr im Sinne des Alles-oder-Nichts zu interpretieren, sondern als Gewichtung in der Umsetzung zu berücksichtigen. Geht es zum Beispiel um das aktive Wahlrecht von Jugendlichen könnte eine Abstimmung ergeben, dass 33 Prozent dafür und 66 Prozent dagegen sind. Anstatt nun ein Drittel der Wähler:innen zu ignorieren, würden Jugendliche nach der flexiblen Entscheidungsregel mit einer Drittel-Stimme stimmberechtigt – vier Jugendliche könnten eine:n Volljährige:n also überstimmen.
  3. "Qualifizierter Zufall als Entscheidungsverfahren" (S. 117-125): Mit der Idee fokussierter Zufallsverfahren für die Besetzung von Ämtern schlagen Frey und Zimmer vor, das hoch-selektive parteipolitische Vorfeld des repräsentativen Regierungssystems nach dem Vorbild des klassischen Athen aufzubrechen. Mit einer zufälligen Auswahl von Mandatsträger:innen würde Repräsentativität – etwa in einem "House of Lots" statt einem "House of Lords" – viel eher garantiert werden können, zumal die Stichprobe entlang soziodemographischer und anderer Merkmale gewichtet (fokussiert) werden könnte.
Die Vorschläge erscheinen vielleicht "ungewöhnlich oder sogar illusorisch" (S. 95). Dies aber nur, wenn man vom Status Quo des repräsentativen Regierens ausgeht. Um diesen – historisch gewachsenen – Status Quo zu überwinden braucht es genau solche Vorschläge, denn die Alternative liegt in der anderen Richtung – in noch weitreichenderen Einschnitten der Teilhabe aller an allem.
Dass die Zivilgesellschaft in den Darstellungen von Frey und Zimmer ganz am Ende als unpolitisches Treiben jener daher kommt, die sich dem "Briefmarkensammeln, Kreuzworträtsel-Lösen und Blumenzüchten" verschreiben (S. 146), irritiert ein bisschen. Immer mehr zivilgesellschaftliche Akteure schließlich verstehen sich durchaus als Impulsgeber:innen für gesellschaftlichen Wandel (siehe ZiviZ-Survey 2023). Das eigensinnige Engagement für praktische Problemlösungen fernab elitärer Besserwisserei aber wird nicht umsonst als Schule der Demokratie bezeichnet eine Schule, in der in vielerlei Hinsicht ein anderes Demokratieverständnis vermittelt wird, als es im repräsentativen Regierungssystem verbreitet ist.

Und jetzt du!

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