Den Mann oder die Frau gibt es nicht seit Anbeginn aller Zeiten. Die kategoriale, quasi-natürliche Trennung zwischen den Geschlechtern ist der Ausgangspunkt und das Resultat alltäglicher Praxis, die auf dichotomen Vorstellungen von Tag und Nacht, Oben und Unten, Himmel und Hölle, Gut und Böse beruht. Vorstellungen, die bei näherer Betrachtung zwar nicht durchzuhalten sind, unseren Alltag aber dennoch in hohem Maße strukturieren. Selbst in unserer aufgeklärten, modernen, emanzipierten Gesellschaft, in der wir den Unterschied zwischen Mann und Frau allenthalben verleugnen, drängt es uns doch das Geschlecht unseres Gegenübers herauszufinden, wenn es eben nicht auf den ersten Blick auszumachen ist.
Andere dichotome Unterscheidungen, die unseren Alltag in hohem Maße strukturieren, sind die zwischen Mensch und Tier sowie Biologischem und Technischem. Eben wie die Unterscheidung zwischen Mann und Frau, lassen sich auch diese Dichotomien bei genauerer Betrachtung nicht durchhalten: So heißt es auf der einen Seite, dass man einen alten Hund einschläfern kann, wenn seine Zeit gekommen ist, auf der anderen Seite ist diese Form der Sterbehilfe beim Menschen — zumindest hierzulande — nicht gestattet. Was, lässt sich nun fragen, müsste dann für Wolfskinder gelten? Körperlich humanoid, seelisch jedoch von den Tieren geprägt, mit denen sie aufgewachsen sind.
Ebenso mit dem Dichotom von Biologie und Technik: Es heißt die Biologie sei das was natürlich ist, von selbst gedeiht und keines menschlichen Eingriffs bedarf; die Technik hingehen sei starr und kalt, vom Menschen geschaffen und prinzipiell austausch- oder gar verzichtbar. Was ist dann aber mit Klonschaf Dolly? Was mit dem Herzschrittmacher eines Kardiologiepatienten? Dolly entstand nicht auf natürlichem Wege und ein Kardiologiepatient würde gegen die Behauptung, er könne auch ohne seinen Herzschrittmacher leben, wohl zu Recht protestieren. Und damit nicht genug: Abseits der bloßen Existenz lässt sich auch fragen, ob wir Menschen denn überhaupt (irgendwann einmal) ohne Technik auskamen oder ob die Werkzeuge unsere dritte Natur bilden — neben der biologischen und der kulturellen.
Wir sind eben alle Cyborgs!
Donna Haraway, eine US-amerikanische Feministin, sah in den genannten Dichotomien einen Grund für die fortwährende Unterdrückung der Frau, was sie 1985 dazu veranlasste „A Cyborg Manifesto“ zu veröffentlichen (deutsche Übersetzung: „Ein Manifest für Cyborgs“ 1995). Formuliertes Ziel dieses Manifests war „einen ironischen, politischen Mythos“ zu schaffen, der dem Feminismus, dem Sozialismus und dem Materialismus zwar die Treue zu hält, sich aber mittels blasphemischer Argumentationslogik gegen die moralischen Zwänge aus den eigenen Reihen zu schützen sucht. Um also überhaupt aus alltäglicher Praxis — die sich, wie oben angedeutet, selbst reproduziert — ausbrechen zu können, musste Haraway zunächst dem „ehrfürchtigen Glauben an die reine Lehre“ sozialistischen Feminismus abschwören.
In der Blasphemie sah Haraway den Vorteil, dass sie „immer schon darauf angewiesen [war], die Dinge sehr ernst zu nehmen“. So mussten Kopernikus, Darwin und Freud — die drei größten Beleidigungen des menschlichen Narzissmus — ihre Sache schon sehr genau genommen haben. Anderenfalls hätten ihre Theorien und Modelle dem Storm der Kritik sicherlich nicht all zu lang standgehalten. In der Ironie wiederum sah Haraway den Vorteil, dass mit ihrer Hilfe Widersprüche formulierbar werden, die sich nicht in einem größeren Ganzen auflösen lassen. Haraway nutzte die Ironie also als „rhetorische Strategie“ und „politische Methode“ um das unkategorisierbare Chaos der Welt zumindest im Ausschnitt zu beschreiben.
Im Zentrum dieser ironischen Treue und Blasphemie steht also das Bild des Cyborg: „Kybernetische Organismen, Hybride aus Maschinen und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion.“ Ihr Manifest wollte Haraway als ein Plädoyer für den Genuss der Verwischung von Grenzen aber auch deren verantwortungsvolle Rekonstruktion verstanden wissen und damit zu einer postmodernen, nicht-naturalistischen Theorie beitragen — ganz in der utopischen Tradition des sozialistischen Feminismus, der sich eine Welt ohne Gender vorstellt.
Was also sind Cyborgs, was ist eine Cyborg?
Haraway verwendet den Begriff Cyborg sowohl im Plural als auch im femininen Singular. Cyborgs sind, wie erwähnt, technologisch-organische Objekte, die im Rahmen herrschender gesellschaftlicher Technologie- und Wissenschaftsverhältnisse hervorgebracht werden. Die Cyborg hingegen ist die feministische Erzählfigur, um die es geht und die von dem Cyborg zwar unterschieden, aber nicht weiter abgegrenzt wird:
[Denn] der Cyborg stellt auch das furchtbare apokalytische Telos der eskalierenden, „westlichen“ Herrschaftsform der abstrakten Individuation eines zu guter Letzt von jeder Abhängigkeit entbundenen, endgültigen Selbst dar: der Mann in den Weiten des Weltraums.
Beide sind von Menschenhand — nicht von Gott — geschaffen. Sie existieren, Automaten in der Bahnhofshalle gleich, nebeneinander ohne sich einander zwingend ergänzen zu müssen; sind also zwei unterschiedliche Wesen, die nicht natürlich zusammengehören, weil sie eben auch nicht natürlich sind. Rein technisch, entworfen und ferngesteuert können sie aber auch nicht sein. Als techno-organische Hybride performieren (i.S.v. Darstellen, Spielen, Erzeugen) sie die gesellschaftliche Praxis, die die Politik bestimmt. Was möglich ist, kann Praxis werden — was Praxis ist, muss geregelt werden — was geregelt wird, setzt sich fort. So entsteht gesellschaftliche Realität oder eben Alltag.
Die von jungen Menschen bereits genutzten neuen Möglichkeiten des Internets werden aktuell unter dem Label „Jugendschutz“ diskutiert.
Politik im Cyborguniversum
Emergiert (i.S.v. aus sich selbst hervorbringen) gesellschaftliche Praxis also aus gegebenen Möglichkeiten, liegt der Schluss nahe, dass sich vieles in der Cyborg-Politik um die Technik, genauer gesagt um die Informatik, dreht. Damit wollte Haraway aber nicht die Frage der Regulierung im Sinne der Focault’schen Bio-Politik ansprechen, mit der „Informatik der Herrschaft“ meinte sie vielmehr die „Übersetzung der Welt in ein Kodierproblem, in der Suche nach einer gemeinsamen Sprache, einem Universalschlüssel, der alles einer instrumentellen Kontrolle unterwirft“. Es sind nicht länger die Kontrolltechnologien der Macht, die ausgehend vom Ist das Soll anvisieren, sondern die Kodierung jedes Einzelnen und zwar jedes einzelnen Subsystems das bereits vor dem Ist (also beim Wird) ansetzt und auf etwas Gewünschtes zielt.
So wird also auch nicht länger von Ganzem gesprochen — wie auch (?) die Cyborg-Metapher verwährt sich dessen (s.o.) — einzelne Teile sind nun das Ziel der Kodierung und der Ansatzpunkt für den Feminismus. Stellen Wissenschaft und Technologie neue Quellen der Macht dar, macht das auch neue Formen politischen Handelns erforderlich.
Die Cyborg ist eine Art zerlegtes und neu zusammengesetztes, postmodernes kollektives und individuelles Selbst. Es ist das Selbst, das Feministinnen kodieren müssen.
Haraway zu folge sollte der Feminismus also eine eigene (bio)technologische Politik entwickeln und damit auch die Möglichkeiten genetisch beförderter Genesungsprozesse als Erleichterung erlebbar machen. Etwaige Probleme der Gentechnologie sollten dafür unter Berücksichtigung von Race, Class & Gender ausgemacht, aufgelistet und öffentlich diskutiert werden. Die Feministinnen aus ihren eigenen Reihen wiederum fordert Haraway auf, sich (a) von einer antiwissenschaftlichen Haltung zu entfernen und sich (b) mutig in unbekannte Wissensarten einzumischen um neuere Entwicklungen der Cyborg-Politik feministisch zu unterwandern.
Mit Hilfe der Cyborg-Metaphorik können zwei zentrale Thesen dieses Essay formuliert werden: 1. Die Produktion einer universalen, totalisierenden Theorie ist ein bedeutender Fehler, der die meisten Bereiche der Realität verfehlt — vielleicht nicht immer, ganz sicher aber jetzt. 2. Verantwortung für die sozialen Beziehungen, die durch die gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse strukturiert werden, zu übernehmen heißt, eine antiwissenschaftliche Metaphysik, die Dämonisierung der Technologie zurückzuweisen und sich der viele Kenntnisse erfordernden Aufgabe anzunehmen, die Begrenzungen unseres täglichen Lebens in immer partieller Verbindung mit anderen und in Kommunikation mit allen unseren Teilen zu rekonstruieren.