Der ehemalige Flughafen Tempelhof ist toll! 355 Hektar Wiese, durchzogen von zwei ca. zwei Kilometer langen und 50 Meter breiten Rollbahnen, einem fast genauso breiten Taxidrive und vielen kleinen Wegen zum Joggen, Radfahren und Skaten. Der Wind ist regelmäßig, sodass meistens Kites und Drachen aller Größen und Formen am Himmel stehen — manche davon sind richtige Kunstwerke, andere tanzen meisterlich am Himmel und von wieder anderen lassen sich Menschen über’s Feld ziehen. Sogar Surfbretter sieht man übers Wiesenmehr gleiten.
Der Park ist relativ sauber. Das ist einerseits seiner schieren Größe zu verdanken, hängt andererseits aber sicher auch damit zusammen, dass die meisten Leute ihren Müll nicht einfach liegen lassen, weil sie den Park schätzen, wie er ist. Und damit sind wir beim Thema: Die allermeisten Leute, die die „Tempelhofer Freiheit“ besuchen, finden den Park toll, wie er ist und wenn man sie fragt, sagen sie natürlich, dass er so bleiben soll.
„Pioniere auf dem Tempelhofer Feld“ | Bild CC leolumix @ flickr.com
100% Tempelhof
Als nach der Wiedereröffnung des Feldes 2010 bekannt wurde, dass der Senat vor hat, Teile des ehemaligen Flughafengeländes zu bebauen, gründete sich 2011 die Bürgerinitiative THF 100%.
[blockquote]Die heterogene Gruppe der Aktiven ist durch die persönlichen Hintergründe, Ausbildungen, Erfahrungen und Fähigkeiten ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer sehr lebendig, vielfältig und bunt. Die Initiative „100% Tempelhofer Feld“ verfolgt das Ziel, das Tempelhofer Wiesenmeer als umweltbedeutsamen zusammenhängenden Raum vor jeglicher Bebauung und Privatisierung dauerhaft zu schützen.[/blockquote]
Mittlerweile ist THF 100% mit seinen Kampagnen zum Erhalt des Tempelhofer Feldes ziemlich stark präsent — ganz besonders in den Quartieren rings um das Feld. Es wurden bereits über 28.000 Unterschriften gesammelt und im Berliner Senat ein Gesetzesentwurf zur Bewahrung des Tempelhofer Feldes vorgelegt. Sollte dieser ablehnen, soll ab Mitte September dieses Jahres die zweite Phase des Volksbegehrens gestartet werden.
Die Chancen dafür, ein Volksbegehren zu gewinnen, stehen gar nicht schlecht. Wie gesagt, die Initiative ist besonders im südlichen Zentrum Berlins präsent und kann so ganz besonders die regelmäßigen Besucher!nnen des Feldes ansprechen, die natürlich für den Erhalt der Fläche sind. Und auch im Netz ist die Initiative präsent. Auf Facebook hat „100% Tempelhofer Feld“ mehr als 5.500 Fans und — glaubt man der Analyse von Fanpagekarma — eine gute Performance.
Darüber hinaus ist die Webseite der Initiative von ihrer Aufmachung her so etwas wie der Gegenpart zur offiziellen Webseite des Parks:
- Auf THF 100% gibt es zahlreiche Mitmachangebote — von der Demo bis zur (Förder-) Mitgliedschaft. Die Webseite zum Park dagegen, ist ein geschlossenes Informationsangebot mit ein paar Kontaktmöglichkeiten
- THF 100% ist übersichtlich und soll vor allem mit gut verständlichem Text informieren. Die Webseite zum Park dagegen wird von Bildern dominiert. Erläuterungen zu den Bildern sind recht kurz und sehr kompliziert formuliert. Die vier Absätze zum „Masterplan Tempelhofer Freiheit“ sind dafür ein anschauliches Beispiel.
- Auf THF 100% werden die Informationen selbstverständlich so miteinander verknüpft, dass ein klares Feindbild entsteht: ‚basisferne, beteiligungsunwillige Individuen (wie z.B. Klaus Wowereit), die allein um ihres eigenen Profits Willen die Freiheit auf Tempelhof einschränken‘. Auf der Parkwebseite gibt man sich professionell und bemüht sich um Vertrauen.
Netzengagement
Wie der kurze Vergleich der Webseiten aber auch das zu beobachtende Gebaren der beteiligten Akteure zeigt, ist man vonseiten der Parkbetreiber und des Senats nicht daran interessiert mit einer Gegenkampagne zu THF 100% in die Öffentlichkeit zu gehen und für eine geordnete Nachnutzung der freien Fläche mitten in Berlin zu werben. Vielmehr sieht es danach aus, als wolle man mit einem professionellem Wir-wissen-schon-was-gut-ist-Auftritt und konkreten Baumaßnahmen — die übrigens in den Zeitraum der zweiten Unterschriftensammlung zum Volksbegehren gelegt wurden — Fakten schaffen und den Aktivisten so möglichst großen Frust bereiten.
Den öffentlichen Diskurs mit seinem Protest und seinen Begehrlichkeiten ‚von unten‘ scheinbar zu ignorieren ist ein bewährtes Mittel der Politik — nicht wirklich demokratisch aber wirksam. Man wähnt sich ohnehin am längeren Hebel und meint den Sturm der Kritik — auch den über’s Netz — bequem aussitzen zu können. Gerade das schafft aber dieses David-gegen-Goliath-Gefühl, dass Netzaktivisten bei öffentlichen Auseinandersetzungen sooo lieben.
Und so finden sich im Netz einige Beiträge, die sich für 100% Tempelhof aussprechen und in denen die Darstellungen von THF 100% wiedergegeben werden. Und auch das wirkt! Unterhält man sich mit Parkbesucher!nnen über die Bebauungspläne bekommt man schnell den Eindruck, dass man es nur noch mit Unterstützer!nnen von THF 100% zu tun hat. So scheinen sich z.B. alle darüber zu empören, dass an die Ostseite des Feldes Luxuswohnungen gebaut werden sollen, was natürlich negative Auswirkungen auf die Nachbarschaft im Schillerkiez haben wird. Ja selbst Urlauber und Austauschstudies empören sich!
Ein interessanter Zweig des Netzengagements ist der der Doku-Produktion zum Tempelhofer Feld. Als regelmäßiger Gast auf dem Feld stand ich diesen Sommer drei Mal für eine Doku zur Nutzung des Tempelhofer Feldes vor der Kammera und wurde auch unzählige Male ohne Einwilligung fotografiert und gefilmt. Ein bisschen wie im Zoo! Als wäre alles schon entschieden und völlig klar, dass das Experiment Pioniere erobern Tempelhof der letzten zwei Jahre — fataler Weise (!!!) — vorzeitig beendet wird, wird jetzt noch schnell dokumentiert, was hätte erhalten werden sollen.
Der Dreh für das umfangreiste Projekt übrigens steht noch an:
Tempelhofer Feld – #2 from Status Qutopia on Vimeo.
Status Qutopia Productions | Trailer zur Doku @ Vimeo
Und selbst?!
Es trifft sich also, dass mich die Frage 100% Tempelhof, 85% oder vielleicht doch nur 50% selbst betrifft. Ich hatte bereits 2011 hier im Blog geschrieben, dass ich die langfristige Planung der Nachnutzung des ehemaligen Flughafen Tempelhofs nicht völlig abwegig finde. Und dabei bleibe ich! Das hält mich allerdings nicht davon ab, die Initiative 100% Tempelhof zu unterstützen. Ich habe dafür unterschrieben und fordere auch andere dazu auf, sich für den Erhalt des Parks einzusetzen. Die Ziele also teile ich, nur das Feindbild nicht.
Ich glaube, dass es auch bei der Nachnutzung von Tempelhof läuft, wie es immer läuft:
- Zuerst kommen die Pioniere — meist Angehörige der Avantgarde — die sich eröffnende Gestaltungsmöglichkeiten ergreifen, um sich auszuleben. Einen tieferen Sinn als den der Gestaltung an sich gibt es dabei eigentlich nicht. Im Ergebnis steht etwas selbst geschaffenes, dass gegen den abrupten Zugriff von außen verteidigt wird.
- Nach und nach werden die geschaffenen Artefakte allerdings von Nachzüglern — nicht selten Angehörige einer Art konsumtiven Bohème — okkupiert, die sich mit deren Nutzung einen Distinktionsgewinn gegenüber der breiten Masse erhoffen. Die Bohème ist der Avantgarde in ihrer Erscheinung nicht unähnlich, schafft mit höherer Bildung und größeren Netzwerken aber ein Flair, das auch die jeweils herrschenden Eliten als kulturellen Umtrieb dulden können.
- Mit der Zeit werden die Artefakte von der breiteren Masse als legitim akzeptiert und aufgesucht. Es entsteht ein kleiner Boom der Nachahmung und Adaption, weil die Artefakte aber nicht mehr selbst erschaffen, sondern nur kopiert oder nachgeahmt werden, wird auch ihr Wert nicht mehr so hoch geschätzt. Sobald sich etwas Neues ergibt, bleibt alles stehen und liegen und wird auch nicht mehr freiwillig beseitigt.
Den Pionieren, die sich bis zur Akzeptanz durch die breite Masse noch nicht von der Bohème haben verdrängen oder vertreiben lassen, wird es spätestens hier zu langweilig. Im Mainstream sehen sie keine Möglichkeit, sich auszuleben. Sie ziehen weiter, ergreifen neue Gestaltungsmöglichkeiten. Die Bohème, die sich ja auch gegen den Maistream abgrenzen wollte, zieht nach und der Zyklus startet von vorn. Übersetzt auf das Tempelhofer Feld und seine große Freiheit heißt das, dass eben diese mit der Zeit umso geringer geschätzt wird desto mehr sie für die Besucher!nnen normal ist.
Der Park, wie er jetzt ist existiert nur, weil er vielleicht nicht mehr lange so ist. Würden die Forderungen der Initiative THF 100% vom Berliner Senat vollständig erfüllt, würde es nicht lange dauern, bis der attraktive Großstadtflair des Gerade-so-akzeptiert-werdens verpufft und der Park dann nur noch unter großen Anstrengungen sauber und attraktiv zu halten ist. Würde THF 100% allerdings sang und klanglos eingehen, würde ein weiteres von Beginn an beteiligungsaverses Berliner Stadtentwicklungsprojekt umgesetzt, über das die betroffenen Anwohner lediglich informiert wurden.
tl;dr: Auf Tempelhof stehen sich heute ein beteiligungsaverses Wir-wissen-schon-was-gut-für-euch-ist und der fragile Zustand des Gerade-so-akzeptiert-werdens gegenüber. Auf welcher Seite stehst du?!