Ein Bericht von Katrin Unger und Hannes Jähnert
Am 19. und 20. November 2010 fand das dritte Berliner SocialCamp statt. Auf diesem jährlich stattfindenden BarCamp treffen sich Internetspezialistinnen und -spezialisten mit Mitarbeitenden zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen um sich über den Einsatz neuer Medien in Non-Profit-Organisationen (NPO) auszutauschen und voneinander zu lernen. Nach drei Jahren ist das Berliner SocialCamp eine Institution, bei der es längst nicht mehr nur darum geht NPO-Mitarbeitende von den mannigfaltigen Möglichkeiten des (neuen) Internets zu überzeugen. Das SocialCamp ist mittlerweile auch ein Ort, an dem neue Entwicklungen im Dritten Sektor abseits des Einsatzes neuer Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten diskutiert werden.
Auch freiwilligenmanagement.de war beim diesjährigen SocialCamp in den Räumen der Humboldt Viadrina School of Governance vertreten und hat – wie es sich für echte BarCamperinnen und -Camper gehört – auch eine Session (mit)gestaltet. Gemeinsam mit Dr. Brigitte Reiser von Nonprofits-Vernetzt und Stefan Zollondz von Net-Polis – Sozialarbeit 2.0 schrieben wir die Geschichte und Zukunft der Freiwilligenarbeit in Deutschland auf den Plan. Ausgehend von einem historisch-philosophischen Enträtselungsversuch deutscher Freiwilligkeit sollte es vor allem um die Theorie und Praxis der Koproduktion im dritten Sektor gehen. Dankenswerter Weise führte Katrin Unger in dieser Doppelsession (2 x 45 Minuten) Protokoll, sodass wir hier nicht nur von den Inputs, sondern auch von der Diskussion berichten können.
Zu den Wurzeln der deutschen Freiwilligenarbeit
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde, in der deutlich wurde, dass das SocialCamp nicht mehr nur der Ort für kleinere Initiativen und Start-Ups ist, sondern durchaus auch Vertreterinnen und Vertreter größerer Kaliber anzutreffen sind, startete Hannes Jähnert (freiwilligenmanagement.de) mit einem genealogischen Blick auf die Wurzeln der deutschen Freiwilligenarbeit. Dazu kurz eine Erläuterung:
Fragt man Expertinnen wie Laien nach den Wurzeln der Freiwilligenarbeit in Deutschland und Europa wird man sehr unterschiedliche Antworten bekommen. Die einen wähnen die Wurzeln deutscher Freiwilligenarbeit bei den12 Aposteln, die anderen in der APO der 1960er und 70er Jahre, die nächsten meinen die Wurzeln des deutschen Sonderwegs der Freiwilligenarbeit im bürgerlichen Ehrenamt der Armenfürsorge in Zeiten der Industrialisierung zu erkennen und wieder andere halten die Kriegsfreiwilligkeit für die Geburt der Freiwilligenarbeit. Das ist sicherlich auch alles richtig, doch hat sich die Freiwilligenarbeit in Deutschland (wie überall auf der Welt) über Jahrhunderte aus vielerlei Strängen entwickelt. Anstatt also von einer Wurzel der Freiwilligenarbeit auszugehen, ist es durchaus sinnvoll, mehrere Entwicklungslinien in der Geschichte zu verfolgen, die sich, wie die Wurzeln eines Baumes, im Jetzt zu einem Stamm zusammenfügen, den wir freiwilliges oder bürgerschaftliches Engagement bzw. Ehrenamt nennen.
Anhand zwei bedeutender Entwicklungsstränge deutscher Freiwilligenarbeit, dem Kriegsdienst und des bürgerlichen Ehrenamtes in Zeiten der Industrialisierung, zeigte Hannes Jähnert also zunächst, dass die Freiwilligenarbeit in Deutschland eher von der kommunitaristischen (republikanischen) Vorstellung einer Bürger- oder Zivilgesellschaft geprägt ist denn von einer liberalen. Auch wenn es heute nicht mehr als Freiwilligenarbeit wahrgenommen wird, finden sich im deutschen Recht – das tradierte Denkweisen erstaunlich lang zu konservieren im Stande ist – doch noch Rudimente von Kriegsfreiwilligkeit (freiwillig länger dienende Mannschaftsdienstgrade in der Bundeswehr) und altem Ehrenamt (in Gestalt des Schöffen / der Schöffin).
Nach dieser, zugegeben etwas provokanten, Einführung in die Geschichte deutscher Freiwilligenarbeit entbrannte augenblicklich eine Diskussion um die Frage, inwieweit sich ein Paradigmenwechsel vom kommunitaristischen zum liberalen Verständnis von Freiwilligenarbeit in Deutschland vollzogen hat bzw. aktuell vollzieht. Besonders durch die Demokratisierungsbemühungen der amerikanischen Besatzungsmacht nach dem zweiten Weltkrieg – so einige Teilnehmende – sollte das republikanische Verständnis von Bürgergesellschaft doch mittlerweile einem liberalen gewichen sein. Soziale Bewegungen, wie die APO oder die Frauenbewegung der 1960er und 70er Jahre würden das doch gut zeigen. Zudem – so andere Teilnehmende – haben sich die Motive der Engagierten geändert. Wurde das Engagement in früheren Tagen eher extrinsisch motiviert, schöpfen heutige Freiwillige ihre Motivation aus einem intrinsischen Antrieb, was wiederum als Beleg einer Liberalisierung ausgelegt wurde. Freiwilliges Engagement, so könnte man die Diskussion kurz zusammenfassen, ist heute eher von der Selbstorganisation der Bürgerinnen und Bürger, denn von der Übernahme quasi-staatlicher Aufgaben geprägt.
Theorie der Koproduktion im Dritten Sektor
Mit einem weniger retrospektiven denn vielmehr gegenwarts- und zukunftsbezogenen Blick referierte Dr. Brigitte Reiser über das Konzept der Koproduktion im gemeinnützigen Bereich. Trotz der Ambivalenz des Konzeptes – man denke an unintendierte Folgen wie die Drosselung staatlicher Leistungen – plädierte sie für eine Erweiterung der bisher vor allem auf die Produktion bzw. die Umsetzung von sozialen Dienstleistungen beschränkten Möglichkeiten. Freiwilliges Engagement sollte demnach neben Helfertum auch die stärkere Einbindung der engagierten Bürgerinnen und Bürger in Planungs- und Steuerungsprozesse bedeuten.
Eine vollständige Koproduktion – die also auch Gelegenheiten zur bürgerlichen Mitbestimmung eröffnet – so Reiser, würde bislang vor allem durch die Dominanz der Professionen und die Hierarchien im wohlfahrtsstaatlichen Bereich behindert. Aber auch von staatlicher Seite wird das (demokratische) Potenzial, das eine umfassendere Beteiligung von Engagierten bieten könnte, verkannt bzw. nicht gefördert. Es gibt also noch einige Schwierigkeiten und damit auch notwendige Veränderungen um eine vollständige Koproduktion in Deutschland erreichen zu können.
Profitieren könnten dabei alle Seiten: NPO’s zum Beispiel durch die bessere Anbindung an die Zivilgesellschaft und die Verbesserung ihrer Dienstleistungen durch den Einbezug der Bürgerinnen und Bürger, welche ja nicht zuletzt auch Abnehmer der Dienste sind. Letztere wiederum könnten durch den (erneuten) Einfluss auf diese sozialen Dienstleistungen gesellschaftliche Gestaltungsräume zurückgewinnen.
Praxis der Koproduktion im Dritten Sektor
Ausgehend von dieser eher theoretischen Perspektive, setzte Stefan Zollondz die Session mit einem Beitrag über die Praxis von Koproduktion fort. Als konkretes Beispiel nutzte er ein Generationenhaus und Stadtteilzentrum der AWO in Bielefeld. Dabei widmete sich Zollondz sowohl den verschiedenen Standpunkten von NPO’s und der Politik zum Thema Koproduktion als auch deren (zukünftigen) Aufgaben um vollständige Koproduktion voranzutreiben. Auf staatlicher Seite müsse beispielsweise der Gedanke der Kosteneinsparungsmöglichkeiten durch Bürgerbeteiligung in den Hintergrund treten, ansonsten würde die Ausweitung der Koproduktion mit der Angst einhergehen, staatliche Mittel für soziale Dienste zu verlieren. NPO’s sollten sich auf der anderen Seite bemühen, das Konzept bekannter zu machen, denn der Mitbestimmungsgedanke müsse zunächst auch bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen.
Diskussion
In der anschließenden Diskussion ging es vor allem um die Frage, von Gelingensfaktoren für eine umfassendere Einbindung von engagierten Bürgerinnen und Bürgern. So müssten vor allem Strukturen und Hierarchien innerhalb der Non-Profit-Organisationen und öffentlichen Einrichtungen für eine Mitwirkung von außen geöffnet werden und organisationsinterne Strategien zur Einbindung Freiwilliger erarbeitet werden.
Vor allem die Mitwirkung bei Planungsprozessen – so ein Einwand aus der Diskussionsrunde – setzt vor allem ein zuverlässiges, eher langfristiges Engagement von entsprechend qualifizierten Freiwilligen bzw. Ehrenamtlichen voraus. Von Bedeutung ist deshalb insbesondere der Aufbau eines Freiwilligenmanagements, das die Auswahl, Qualifizierung, aber auch die Einsatzplanung und –koordination von Engagierten ermöglicht. Gleichzeitig sei es aber auch wichtig, dass Ehrenamtliche und Freiwillige nicht die Arbeit Hauptamtlicher ersetzen. Sie können der Arbeit vielmehr eine andere Qualität verleihen – Ressourcen könnten gebündelt werden; Professions- und Bürgerwissen können sich ergänzen.
Natürlich durfte auf dem SocialCamp die Frage nach den Potenzialen, die das Internet für Koproduktion bietet, nicht fehlen. Wenn der Trend zum eher sporadischen, kurzfrisitgen oder auch Online- und Micro-Engagement geht, wie kann dann ein verlässliches Netzwerk von Freiwilligen aufgebaut werden? Als vorbildliches Beispiel wurde hier das Österreichische Rote Kreuz genannt, das sein Netzwerk über Facebook erfolgreich pflegt und hierüber beispielsweise Freiwillige für Textübersetzungen findet. Das Problem jedoch: Vor allem traditionelle Organisationen öffnen sich nur langsam und häufig nur gegen große Widerstände den neuen Möglichkeiten, die der Interneteinsatz eröffnen kann. Ein großer Nachteil gegenüber kleinen, agilen und innovativen Initiativen und Organisationen. Diese können dann schließlich auch eine stärkere Mitwirkung von Engagierten ermöglichen und die Macherinnen und Macher unter den Engagementwilligen gewinnen. Gefühlt – so ein Fazit der Runde – gewinnen sie deshalb auch den „Kampf“ um die „guten Freiwilligen“.
Eine weiterführende Diskussion zum Thema Förderung „echter Partizipation“ läuft in der aktuellen NPO-Blogparade.
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