36% der Deutschen brauchen neue Wege zum freiwilligen Engagement …

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… kingt platt, ist aber so. Laut Freiwilligensurvey — die regelmäßigen Leserinnen und Leser meines Blogs werden es wissen — sind 37% der Deutschen (ab 14 Jahren) mindestens eventuell bereit, sich freiwillig, unentgeltlich, öffentlich und gemeinschaftlich für ein größeres Wohl zu engagieren. Demgegenüber stehen 36% der Bürgerinnen und Bürger (wiederum ab 14 Jahren), die sich bereits engagieren. Die restlichen 27% der deutschen Wohnbevölkerung ab 14 Jahren gaben im jüngsten Freiwilligensurvey an, „nicht bereit“ zu sein, sich freiwillig oder ehrenamtlich zu engagieren. Schade eigentlich! Die Freiwilligenarbeit bringt doch so viel mehr als bloß die verpönte Kompensation unaufhaltsam schrumpfender Leistungen des Sozialstaates. Es bringt Sinn, Gemeinschaft, Spaß, ein gutes Gefühl etwas beigetragen zu haben und nicht zuletzt auch die Gelegenheit, sich in die kleine und große Politik einzumischen. Freiwillig Engagierte — und das kann ich wirklich nicht oft genug betonen — erwerben in ihrem Engagement wertvolle „Softskills“ wie Kommunikations-, Team- und Kritikfähigkeit und bilden überdies soziales Kapital, das der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ einstmals wie folgt beschrieb:

Kapital an ‚mondänen‘ Beziehungen, die bei Bedarf einen nützlichen Rückhalt bieten, Kapital an Ehrbarkeit und Ansehen, das in der Regel von allergrößtem Nutzen ist, um das Vertrauen der »guten Gesellschaft« […] zu gewinnen und zu erhalten, und das sich durch aus einmal z.B. in einer politischen Karriere bezahlt machen kann (Bourdieu 1987: 204).

Feine Unterschiede sind es auch, die der kritische Leser / die kritische Leserin in diesem Text bemerkt haben dürften: Laut Freiwilligensurvey sind es 37% der Deutschen, die mutmaßlich zum Engagement bereit wären, würde sich nur eine Option ergeben, in der Überschrift schreibe ich aber von 36% der Deutschen, die neue Wege zum freiwilligen Engagement brauchen. Wo ist das fehlende Prozent?

Die Sinusmilieus und freiwilliges Engagement

Der eine Prozentpunkt — dieser feine Unterschied — ist einem Zahlenspiel zum Opfer gefallen, das mir neulich in einem Studienausschnitt zu „klammen Kommunen und engagierten Bürgern“ begegnete (herzlichen Dank an dieser Stelle an Fabian Klenner, der mich via Facebook auf die Studie aufmerksam machte). Im Großen und Ganzen zeigt diese Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung an sechs unterschiedlichen Fällen, in welcher Beziehung Kommunen zum freiwilligen Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger stehen.
Das ist natürlich sehr interessant. Mein Augenmerk richtete sich aber auf die einführende Erläuterung zu freiwilligem Engagement und Ehrenamt, in der folgende Passage zu lesen war:

So finden sich nach der Kategorisierung des Sinus-Instituts in einer unteren sozialen Lage nicht nur traditionsverwurzelte Arbeiter, sondern auch „Prekäre Milieus“ und Hedonisten [BMFSFJ 2010]. Während sich die letzteren beiden Gruppen kaum freiwillig für die Gemeinschaft engagieren, findet man Angehörige des traditionellen Milieus vorwiegend als Vereins- oder Gewerkschaftsmitglied im klassischen Ehrenamt. In der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht gibt es neben der „bürgerlichen Mitte“ heute auch die „Liberal-Intellektuellen“, die „Performer“, das „sozialökologische Milieu“ und das „Expeditive Milieu“. Während Menschen aus der bürgerlichen Mitte noch zu den Machern und Organisatoren des klassischen Ehrenamtes gehören, können sich letztgenannte Gruppen mit traditionellen Engagementformen kaum mehr identifizieren (Berlin-Institut 2011: 4).

Schlüsselt man das Geschriebene nach dem Wording des Freiwilligensurveys auf und zeichnet es in die wohl bekannte und im letzten Jahr erst überarbeitete und ergänzte „Kartoffelgrafik“ der Sinus-Milieus ein, ergibt sich folgendes Bild:
Ich finde es sehr interessant, wie sich die Zahlen des Freiwilligensurveys annähernd auch in dieser Gestalt wiederfinden: 24% der Deutschen gehören den beiden unteren Milieus des Prekariats und der Hedonisten an. Sie sind wohl nicht — oder nur ausnahmsweise — zum freiwilligen Engagement bereit. Die bürgerliche Mitte, wie die Traditionalisten und das konservativ etablierte Milieu (insgesamt 39%) engagieren sich eher in Form des wohlbekannten Ehrenamtes, während die restlichen 36% den oberen Milieus angehören, die sich (noch) nicht engagieren. Zu dieser „neuen Mittel- und Oberschicht“ schreiben die Autoren und die Autorin der obigen Studie folgendes:

Gerade diese neue Mittel- und Oberschicht drängt in die neuen Formen des Engagements. „Liberal-Intellektuelle“ und „Moderne Performer“ wollen selbst bestimmen, auf welche Weise und wie lange sie sich einbringen. Sie schauen sich in Freiwilligenbörsen um, treten Initiativen bei oder gründen selbst welche. Und streifen am „Tag des Engagements“ auch mal den Blaumann über (Berlin-Institut ebd.).

Fazit:

Es ist beinahe ein alter Hut und dennoch lässt es sich nicht oft genug betonen: Um mehr Menschen in ein freiwilliges Engagement zu bringen, braucht es mehr als nur schöne Worte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Angehörigen der neuen Mittel- und Oberschicht zum traditionellen Ehrenamt überreden lassen. Aufgrund enger Zeitpläne, die wahrscheinlich mit Familie und beruflichem Karriereplänen korrespondieren, sind eben diese Menschen auf flexibleres und vielleicht sporadischeres Engagement angewiesen, als es ihnen in Form des herkömmlichen Ehrenamtes geboten werden kann. Sie wollen sich ganz offenbar nicht vereinnahmen lassen und fordern traditionelle NPOs in einem Maße heraus, dem m.E. die meisten kaum gewachsen sind.

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