Die Zukunft des freiwilligen Engagements Teil 1: „Beschleunigung“

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Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten! Ob es uns nun passt oder nicht, die Gesellschaft entwickelt sich weiter. Ob wir das gut finden oder schlecht, das sei dahingestellt. Fakt ist die Veränderung! Veränderung mit der wir über kurz oder lang umgehen müssen. Mit dem Internet und dem WWW sind in den vergangenen fünfzig Jahren gesellschaftliche Innovationen entstanden, die heute symbolisch für einen Fortschritt stehen, mit dem es sich mindestens zu arrangieren gilt. Ohne EDV geht es schon lange nicht mehr, ohne Internet geht es nicht mehr lange und ohne Social Media wird es künftig immer schwerer. Die Zwänge sind brutal; wer nicht mitkommt bleibt auf der Strecke und verdurstet. Wer mitkommen will, steuert direkt auf einen ‚Clash of Culture‘ zu, der unmittelbar zu Schock und Krise führt. Wer diese leidvollen Erfahrungen dann gemacht hat, wer sich nicht nur mit der ‚schönen neuen Welt der Sozialen Medien‘ arrangiert, sondern sich hier auch virtuos zu bewegen weiß, dem ist ein ständiges Lernen auferlegt, das immer wieder zu kleinen Schocks und Krisen führt, an denen man lernen wollen muss.
So ist also nichts weiter zu versprechen als „Blut, Tränen, Mühsal und Schweiß“  (Winston Churchill), doch lohnt sich dieser einzige Weg zu einer modernen Zivilgesellschaft deren Spitzen es auch vermögen, wirkungsvoll ins Fleisch der bislang weitgehend unbehelligten Eurokraten zu stechen. Es ist schon oft darüber gesprochen worden, wie Soziale Medien für diesen Zweck eingesetzt werden können. Konferenzen wie die re:campaign beschäftigen sich im Grunde mit nichts anderem. Deshalb möchte ich an dieser Stelle fragen, warum die Online- und Micro-Engagements unserer Tage, das Liken und Sharen, das Mitzeichnen und Shitstormen, so große Resonanz erfahren, währenddessen sich immer weniger Menschen für ein stetes Ehrenamt finden.
Anhand einiger Gedanken zur Beschleunigung in der Moderne will ich im ersten Teil dieser Reihe zur Zukunft des freiwilligen Engagements zeigen, welcher Stellenwert der biographischen Passung freiwilligen Engagements heute zukommt. Ich habe mich zu einer Reihe entscheiden, weil ich (a) momentan keine ewig lange Blogposts veröffentlichen will und (b) auch gern Raum für Einwände lassen möchte. Dementsprechend schließe ich hier mit Thesen, die ich im nächsten Teil wieder aufnehme.

Beschleunigung in der Moderne

Über die Veränderung der Zeitstrukturen in der Spät- oder Postmoderne schrieb Hartmut Rosa Anfang des vergangenen Jahrzehnts seine Habilitationsschrift, die ich gerade mit einigem Interesse lese. Rosa behauptet — nicht zu Unrecht, wie ich meine –, dass sich die gesamte Moderne durch große und kleine Beschleunigungsschübe auszeichnet, die sich auf dreierlei Weisen im Leben der Menschen manifestieren (im Folgenden Rosa 2005: 124ff.):

  1. In der technischen Beschleunigung – der beschleunigten Produktion und Distribution von Gütern und Dienstleistungen (Man denke hier bspw. an die Einführung der Eisenbahn oder des WWW).
  2. In der Beschleunigung des sozialen Wandels — dem immer rascheren Wechsel von Handlungsorientierungen, Praxisformen und Beziehungsmustern, die die zunehmende Schrumpfung des Zeitabschnitts, der sich als Gegenwart in der Postmoderne noch sicher überblicken lässt, nach sich zieht.
  3. In der Beschleunigung des Lebenstempos — der Verkürzung und Häufung von Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit (ich schreibe einen Brief, ich lese ein Buch, ich koche, ich putze, ich sehe Fern etc. und das alles an einem Tag)

Ganz allgemein klammert Rosa diese drei Ebenen der Beschleunigung in modernen Gesellschaften mit der Formel Menge pro Zeiteinheit gleich Beschleunigung und lehnt damit logisch an die physikalische Definition von Beschleunigung an. Diese Klammer ist wichtig, weil die genannten Ebenen der Beschleunigung nur analytisch voneinander zu trennen sind, sich tatsächlich aber — über vielerlei Umwege — ineinander verschränken. So führt die technische Beschleunigung zu einem Mehr an Produkten und Dienstleistungen, die Menschen in Anspruch nehmen können — manchmal auch müssen — und damit auch zu einer Beschleunigung des sozialen Wandels. Der rasche Wechsel von Handlungsorientierungen, Praxisformen und Beziehungsmustern wiederum führt zu einer gefühlten Beschleunigung des Lebenstempos, die sich in der Verkürzung der Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit manifestieren. Diese Verkürzung von Handlungs- und Erlebnisepisoden führen wiederum zu einem Bedarf an Zeitsparmaschinen & -praktiken (Mikrowelle, Staubsauger & Speedreading, Speeddating), die die Beschleunigung in der Postmoderne weiter vorantreiben.
Insgesamt, so Rosas etwas düsterer Befund, ist das Leben der Menschen in der Postmoderne vorrangig durch Kurz-Kurz-Muster gekennzeichnet. Anstelle längerer Erlebnisepisoden, die einem im Nachhinein wie ‚im Fluge vergangen‘ vorkommen (bspw. der letzte Urlaub) und kurzen Erlebnisepisoden, die einem im Nachhinein als ‚endlose Momente‘ erscheinen (bspw. ein Autoundfall) treten kurze Erlebnisepisoden, die nur als noch kürzere Schlaglichter in Erinnerung bleiben. M.E. etwas voreilig zieht Rosa aus diesem Befund den noch viel düstereren Schluss, dass das Leben in postmodernen Gesellschaften so erlebnisreich wie erfahrungsarm würde (ebd: 235). Wir leben immer mehr von Augenblick zu Augenblick, von einer Handlungs- und Erlebnisepisode zur anderen ohne nennenswerte Verbindungen dazwischen herstellen zu können, die uns erlauben würden, stabile Identitäten auszubilden, die die gesellschaftliche Beschleunigung bremsen könnten.
Als empirische Evidenz für diese massive Beschleunigung des Lebenstempos in der Moderne führt Rosa den Fernsehkonsum an (ebd.: 222ff.). Fernsehen — und äquivalent dazu sicherlich auch das häufig als slaktivism abqualifizierte Liken, Sharen, Mitzeichnen und Shitstormen — nimmt bei vielen Menschen einen beträchtlichen Anteil frei zur Verfügung stehender Zeit in Anspruch, obwohl es sehr häufig als geringwertig eingeschätzt wird und nur wenig Befriedigung verschafft. Warum aber gibt sich der moderne Menschen mit dem Fernsehprogramm ab, wenn es doch so viele andere Optionen der Freizeitgestaltung gibt, deren Wert durchweg höher eingeschätzt wird? Warum engagieren sich so viele Menschen nicht ehrenamtlich? Woher kommt die eklatante Diskrepanz zwischen jenen, die angeben „bestimmt“ oder „eventuell“ zum freiwilligen Engagement bereit zu sein (37%) und jenen, die es tatsächlich tun (36%)?

Keine Zeit!?

Ein häufiger Grund für das Nicht-Engagieren ist die fehlende Zeit. Gehetzt von einer Notwendigkeit zu nächsten rennend meint der postmoderne Mensch einfach keine Zeit zu haben. Erstaunlicher Weise sind aber die Engagementquoten der Berufstätigen mit Familie, also jenen Menschen, denen faktisch die wenigste freie Zeit zur Verfügung steht, am höchsten (Gensicke/Geiss 2010: 104ff.). Damit lässt sich wohl sagen, dass die Angabe „keine Zeit“ selten ein objektiver Grund für das Nicht-Engagieren sein dürfte. Eher zu vermuten ist — und diese These wurde schon häufiger formuliert –, dass sich der postmoderne Mensch nicht mehr zu einem dauernden Engagement verpflichten kann, weil er selbst nicht weiß, was er Morgen, nächste Woche, nächsten Monat oder nächstes Jahr macht.
Mit der Schrumpfung des Zeitabschnitts, der sich als Gegenwart in der Postmoderne noch sicher überblicken lässt, ist dieses Phänomen oben angesprochen worden, womit die Diskrepanz zwischen externem Engagementpotential und tatsächlich Engagierten als Symptom der Beschleunigung gedeutet werden kann. Ganz offenbar passt das ‚alte Ehrenamt‘ nicht mehr zum Leben des postmodernen Menschen, womit wiederum die Frage in den Vordergrund rückt, warum sich Menschen viel weniger geschätzten und als unbefriedigend empfundenen Tätigkeiten wie dem Fernsehen zuwenden. Die Antwort: Because it fits.

[Z]um Ersten ist unbestreitbar, das Fernsehen eine der wenigen Aktivitäten ist, die jederzeit zum Ausfüllen kurzer Zeitfragmente und zum Überbrücken von Pausen genutzt werden können: Es bedarf keiner Vor- oder Nachbereitung. […] Zum Zweiten aber erfordert Fernsehen auch nur einen minimalen psychischen und physischen Energieaufwand (Rosa 2005: 224).

Wie das Liken und Sharen, das Mimtzeichnen und Shitstormen ermöglicht das Fernsehen friktionslose Kurzweil. Es kostet einfach nicht mehr als die Bedienung einer Apparatur, die man (überspitzt) als Zeitvernichtungsmaschinebezeichnen könnte. Das Fernsehen nimmt nicht etwa so viel freie Zeit in Anspruch, weil der postmoderne Mensch ein passives Wesen ist. Vielmehr bietet das TV-Programm vielerlei Angebote, kurze und längere Zeitspannen zu überbrücken und zwar mit mehr oder weniger ‚Aufwand‘; man kann Arte schauen und sich von anspruchsvollen Dokumentationen ‚bilden‘ lassen, genau wie man sich auf RTL vom folgenlosen Treiben bei DSDS berieseln lassen kann

Fazit

Es ist wohl unbestreitbar, dass sich moderne Gegenwartsgesellschaften durch Beschleunigung charakterisieren lassen. Ebenso ist nicht zu bestreiten, dass sich die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Identitätsbildung niederschlagen, doch meine ich, dass Rosas Befund einer so erlebnisreichen wie erfahrungsarmen Zeit, in der nur fragmentarische Identitäten ausgebildet werden können, vorschnell ist. Auch das Fernsehe-Programm, das Rosa als empirischer Beleg für die der Kurz-Kur-Muster der Postmoderne anführt, schafft Präferenzen. Selbst der größte Zapper hat noch ein oder mehrere Lieblingsprogramme bei denen er (oder sie) immer wieder vorbeischaut. Dementsprechend möchte ich für den nächsten Teil nun die ‚steile These‘ notieren, dass die Engagementförderung dem Vorbild des Fernsehens folgen sollte und eine ganze Bandbreite von unterschiedlich aufwändigen Engagements möglich machen muss. Darüber hinaus behaupte ich — übrigens nicht das erste Mal –, dass sich auf diesem Wege auch das stete Ehrenamt in den Vorstands- und Führungsposten fördern lässt.

Kommentare

  • Ja, ich denke auch, dass es ein wichtiger Punkt ist, dass jeweils nur kurze planbare Zeitspannend zur Verfügung stehen und Fernsehen etc. als Überbrückungs- bzw. Zeitfüllungstechniken genutzt werden.
    Allerdings finde ich es beachtlich, dass Rosa all das Anfang des vergangenen Jahrhunderts schreibt. Seinen Folgerungen über die Identitäten würde ich nicht per se bestreiten. Denn auch heute werden ja Identitäten als fragmentiert beschrieben, weil Identitäten kontinuierlich ausgehandelt und neu konstruiert werden. Aber das widerspricht dennoch einer kontinuierlichen Biographie mit vielen Einzelidentitäten nicht – quasi wie ein Film mit vielen Einzelbildern. Auch mit dem erfahrungsarm und erlebnisreich dürfte er nicht so falsch liegen, wenn man bedenkt, dass manche Kinder nicht mehr die Erfahrung machen auf Bäume zu klettern um ein Beispiel zu nennen. Aber diese Lücke wird ja bereits von vielen Erfahrungsangeboten zu füllen versucht, dennoch ist der Stellenwert des Virtuellen in unserer Zeit enorm und sicher ist auch das zu berücksichtigen.

    • Hallo Angelika, vielen Dank für deinen Kommentar und die prinzipielle Zustimmung in Sachen Planbarkeit freiwilligen Engagements. Ein paar Punkte von mir zu deinen Anmerkungen:
      (1) Rosas Habil-Schrift ist 2005 erschinen! Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wurde die Soziologie begründet, die (laut Rosa) auch den Beginn der Moderne markiert.
      (2) Sicherlich müssen Identitäten heute als fragmentarisch beschrieben werden, mit den einzelnen Bildern eines Films würde ich das aber nicht vergleichen, eher mit Gravitationsfeldern. M.E. kreisen unsere Identitätsfragmente um einen Schwerpunkt, der unser Leben mehr als andere bestimmt. Ein bestimmtes thematisches Interesse, eine Lebensphilosopie … Diese Identitäts-Patchworks sind immer nur individuell sinnvoll, weshalb ein Film aus diesen Bildern auch nur vom Einzelnen verstanden werden könnte.
      (3) Dass unsere Welt so erlebnisreich wie erfahrungsarm würde, bezieht Rosa nicht auf die Erlebnisse, die — Arbeitsteilung sei Dank — viele von uns heute nicht mehr machen können (Stadtkinder, die nicht auf Bäume klettern), sondern auf die Art und Weise, wie wir etwas erleben und wie wir uns daran erinnern. Rosa meint, wir würden immer mehr kurze Sequenzen erleben, die immer weniger miteinander zu tun haben und uns deshalb nur noch schlaglichtartig daran erinnern.
      Gruß
      Hannes

      • Danke für Deine Antwort und die Erklärungen. Das mit Rosa war wohl ein Mißverständnis, denn du hattest geschrieben, „Über die Veränderung der Zeitstrukturen in der Spät- oder Postmoderne schrieb Hartmut Rosa Anfang des vergangenen Jahrzehnts seine Habilitationsschrift, die ich gerade mit einigem Interesse lese.“, als muss das Anfang des vergangenen Jahrzehnts irgendwie reingerutscht sein. (Nur zur Info – das soll keine Rechthaberei sein)
        Schönen Gruß,
        Angelika

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