Als ich mich in meinem dritten Semester durch die ersten Kapitel der „feinen Unterschiede“ von Pierre Bourdieu kämpfte, wurde ich dabei auch von meinem damaligen Professor Wolf Wagner begleitet. Als ob die Mails erst gestern angekommen wären, ist mir der Inhalt einer davon noch gegenwärtig:
„Seine Anwendung auf Deutschland finden Sie in den Sinus Milieus.“
Vielen herzlichen Dank Herr Wagner, dachte ich damals bei mir. Was zum Teufel sind „Sinus Milieus“? Nach einiger Recherche stieß ich dann auf das Heidelberger Marktforschungsinstitut Sinus Sociovison und deren Modell der Sinus Milieus™.
Mit den Sinus Milieus™ sollen gesellschaftliche Zustände in einem wissenschaftlichen Modell dargestellt werden um darauf aufbauend verlässliche Aussagen über die soziokulturelle Entwicklung formulieren zu können. Grundlage dafür ist die jahrzehntelange Trendforschung zu Lebenswelten der Menschen in Deutschland sowie Studien zu alltagsrelevanten Themen wie Umwelt, Familie, Medien, Technologie, Religion, Politik, Konsum und Ästhetik.
Um mit diesem Modell einen Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit erheben zu können, wird einiger Aufwand betrieben. Für die im Sommer dieses Jahres neu aufgelegten Sinus Milieus™ wurden 3.000 qualitative und über 300.000 quantitative Interviews durchgeführt. Zum Vergleich: für den alle fünf Jahre erhobenen bundesdeutschen Freiwilligensurvey werden zwischen 15.000 und 20.000 quantitative Interviews durchgeführt (CATI-Telefonbefragung).
Was lässt sich also mit dem neuen Modell der Sinus Milieus™ sagen? Was hat sich in den letzen Jahrzehnten in Deutschland getan? Eine klare Antwort dazu kann es natürlich kaum geben. Zunächst einmal heißt es nur:
Die Gesellschaft ist komplizierter geworden […] und formiert sich neu.
Der Wohlstands- und Sicherheitszuwachs, der in der Mitte des letzen Jahrhunderts noch deutlich zu beobachten war, scheint endgültig vorbei. Durch die zunehmende Privatisierung alltäglicher Lebensrisiken (bspw. Krankheit und Invalidität) werden untere Milieus tendenziell überfordert, was zur Folge hat, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland immer weiter öffnet.
Dieses Auseinanderdriften der Ober- und Unterschicht hat auch zur Folge, dass die gesellschaftliche Mitte zunehmend unter Druck gerät. Auf der einen Seite gilt es sich vor dem Abstieg in untere gesellschaftlich Gefilde zu bewahren auf der anderen Seite aber – und das finde ich sehr erstaunlich – scheint sich die bürgerliche Mitte zunehmend auch gegen obere gesellschaftliche Schichten abzugrenzen. So heißt es in den „Sinus News“ vom 30. August 2010:
„Ein Teil zieht sich zurück, ein anderer Teil bleibt statusoptimistisch.“
Kein Wort dagegen vom Aufstiegsstreben früherer Tage! Woran liegt das? Mutmaßen lässt sich vielleicht, dass die ökonomischen Eliten der Marktwirtschaft zunehmend in Verruf geraten. Manager – so ließt man allenthalben in der Presse – stecken sich die Milliardengewinne, die ohne die Bürgschaften des Steuerzahlers nicht möglich gewesen wären, skrupellos in die eigene Tasche und Konzernchefs verweisen höhnisch grinsend auf teilweise geheime Verträge, die kein Recht auf Protest zulassen. Wer will da noch sein wie der Chef der Deutschen Bahn AG, die Topmanager der Deutschen Bank oder ein Aufsichtsratsmitglied bei RWE? Sicherlich: das Geld hätten viele gern, das bröckelnde Ansehen aber lieber nicht. Auch das spiegeln die neuen Sinus Milieus™:
„Vor dem Hintergrund der ‚pragmatischen Wende’, die die Gesellschaft vollzogen hat, entwickeln sich neue Wertesynthesen, die nicht mehr der Logik des ‚entweder – oder’, sondern dem Anspruch auf das ‚sowohl – als auch’ verpflichtet sind.“
Für immer weniger Menschen ist ihr angestrebter Wohlstand mit Ausbeutung und Skrupellosigkeit kapitalistischer Couleur verbunden. Eine rein neoliberale Gesellschaftsorganisation, die sich ausschließlich über den Markt regelt, scheint damit zunächst obsolet. Andererseits scheint auch das sozialdemokratische Modell gesellschaftlicher Ordnung, das das gesamtgesellschaftliche Wohl immer über den Einzelnen stellt, nicht zu passen. Für eine Unterordnung unter ein irgendwie geartetes gesamtgesellschaftliches Wohl scheint die Wertpluralität einfach nicht geeignet.
Angesichts gegenwärtiger Entwicklungen und mit den neu aufgelegten Sinus Milieus™ im Hinterkopf scheint ein Hybrid des beschriebenen Liberalismus und Kommunitarismus am wahrscheinlichsten zu sein. Gemeint ist die Metamorphosis-Gesellschaft, die von den Forscherinnen und Forschern des Sinus Instituts bereits 2007 in ihrem Newsletter „Navigator“ [PDF] beschrieben wurde.
Aus der wachsenden Engagement- und Beteiligungswilligkeit der Bürgerinnen und Bürger sowie der immer weiter ansteigenden Nachfrage nach ökologischen bzw. fair gehandelten Produkten leiten die Forscherinnen und Forscher eine sich entwickelnde gesellschaftliche Ordnung ab, in der sich Moral wieder bezahlt macht und dementsprechend auch in ökonomisch geprägten Milieus hochgehalten wird.
[…] This post was mentioned on Twitter by Hannes Jähnert, Karen Neumann. Karen Neumann said: wer auch immer mich grad draufgeleitet http://ow.ly/2OCvN die #SinusMilieus Deutschlands sind interessant … […]
[…] wir uns nichts vor, Moral ist in. Wir sind auf dem besten Weg in die Utopie der Metamorphosis-Gesellschaft, einem ausnahmsweise Hoffnung gebendem Gesellschaftsentwurf, in dem sich die gemeinschaftliche […]
@andreame Vielen Dank für die Blumen. Die #Sinus-Milieus sind wirklich spannend, v.a. die #Metamorphosis-Gesellschaft http://bit.ly/o64VLP