Der eingetragene Verein ist die Organisationsform freiwilligen Engagements. Rund 40% der Freiwilligenarbeit in Deutschland wird in Vereinen geleistet. Über 580.000 davon gibt es hierzulande bereits — Tendenz steigend. Jeder zweite Deutsche ist Mitglied in mindestens einem Verein; Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften sind keine Seltenheit.
Der Verein steht nicht nur für eine Rechtsform. Er steht synonym für unterschiedlich verfasste Organisation mit jeweils starkem lokalen Bezug — Organisationen, in der man zusammen kommt, sich austauscht und miteinander klüngelt. Die deutsche Vereinsmeierei ist weltberühmt!
Schade nur, dass es damit zu Ende geht. Das zumindest könnte man meinen, wenn man die Expertise von Annette Zimmer zum ersten Engagementbericht der Bundesregierung liest.
Zimmer sieht eine unaufhaltsame Professionalisierung und Verbetriebswirtschaftung des Vereinswesens voranschreiten, die die für Gemeinschaft und Zivilgesellschaft einstmals so wichtigen Institutionen bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Der Business Talk hat längst Einzug gehalten in die Welt der Vereine, die eigentlich keine mehr sind, sondern Initiativen, Projekte, NGOs und Sozialunternehmen, die professionell geführt, ihre Anliegen werbewirksam vermarkten und sich über Events, Kampagnen und Verkäufe von Merchandise finanzieren (Zimmer 2012: 586).
Die zentralen Charakteristika des Vereins — die freiwillige Assoziation, das finanzielle und zeitliche Engagement der Mitglieder und der damit einher gehende geringe Grad an Professionalisierung — kommen ihm zusehends abhanden. Damit ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, „dass der Verein sein Alleinstellungsmerkmal für die lokale Organisation gemeinschaftlicher Aktivitäten verliert“ (Zimmer 2012: 584), dass er in nicht all zu ferner Zukunft einfach nicht mehr im Stande sein wird, eine nennenswerte Zahl von aktiven Mitgliedern aus dem Gemeinwesen an sich zu binden.
Als Ursachen für den Untergang des Vereins geraten schnell die allerorts beschriebenen Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen moderner Gegenwartsgesellschaften in Verdacht.
Mit Individualisierung und Pluralisierung werden zwei ineinander verwobene Entwicklungslinien moderner Gegenwartsgesellschaften beschrieben, deren „inneren Zusammenhang“ Hartmut Rosa im Begriff der „Beschleunigung“ gefunden hat: „Mengenzunahme pro Zeiteinheit“ (Rosa 2005: 115).
Man ist nicht mehr Bäcker, Konservativer oder Katholik per se, sondern stets nur ‚im Moment‘ und für tendenziell schrumpfende Gegenwartsperioden von nicht vorhersagbarer Dauer; man war etwas anderes und wird (möglicherweise) jemand anderer sein (ebd.: 364).
Heißt also, man hat die Wahl und entscheidet sich (möglicherweise) jemand anderes zu werden oder etwas anderes zu wählen.
Diese neue Freiheit aber kann schwerlich als Grund für die schwächelnde Bindungsfähigkeit von Vereinen herangezogen werden. Nur, weil wir jetzt selbst entscheiden (können), wann wir was sein wollen, heißt das ja nicht, dass der Verein um die Ecke automatisch keine Option mehr darstellt. Er stellt dann keine Option mehr dar, wenn er gegen die ‚Konkurrenz‚ nicht mehr bestehen kann.
Konkurrenz! Das ist der Schlüsselbegriff zu einer aufschlussreichen Vivisektion des Vereins. Zunächst hat der Verein sich nämlich durch seinen atemberaubenden Erfolg seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts gepaart mit seiner erstaunlichen Unfähigkeit zur Kooperation selbst die Fressfeinde gezüchtet, mit denen er sich nun im Konkurrenzkampf um Mitglieder, Kunden und Freiwillige sieht. Einen Konkurrenzkampf, den er über die Professionalisierung und Dienstleistungsorientierung zu gewinnen glaubt: Marketing zur Kunden-, wahlweise auch Spendenakquise, klare Profits für die Mitgliedergewinnung und Freiwilligenmanagement zur Verwaltung der Humanressourcen — von unprofessioneller Vereinsmeierei keine Spur.
Nun kennen wir freilich das Resultat des Konkurrenzkampfes auf einem freien Markt: Die unsichtbare Hand des Adam Smith schiebt Mittel, Chancen und Ressourcen von denen, die wenig haben, zu denen, die mehr investieren können — Matthäus lässt grüßen.
Es erwachsen schlagkräftige Akteure, die sich soweit professionalisieren, dass sie gar nicht mehr an freiwilliger Assoziation — an Mitgliedern — interessiert sind. In diesen „Moralunternehmen“ haben Unterstützer eine klare Rolle: Sie spenden Geld, Zeit oder Aufmerksamkeit, mitbestimmen dürfen sie nicht. Längerfristige Bindung wird nicht mehr verlangt und ist auch gar nicht mehr sinnvoll. Man vertraut darauf, dass man jeden Spender, jeden Freiwilligen und jeden Interessierten auch wieder gewinnen kann — man nennt das „Warmakquise“.
Alles in allem folgten die Vereine — große wie kleine — der Wirtschaftslogik des Marktes. Sie versuchten stets besser, schneller, attraktiver zu sein als die andern und vergaßen darüber ihre eigentlichen Alleinstellungsmerkmale, die sie vor einer noch bissigeren Konkurrenz schützen: Wirtschaftsunternehmen. Kein Tante-Emma-Laden hätte es in früheren Tagen gewagt, sich mit der ansässigen Sozialstation zu vergleichen. Heute sind das alles Social Entrepreneurs, die (mehr oder weniger) professionell um die Gunst der Kundschaft werben.
Wenn ich heute wiederholt und ohne ausgepfiffen zu werden, sagen kann, freiwilliges Engagement wäre nicht mehr als eine Option der Freizeitgestaltung, die neben vielen anderen steht, dann ist das für mich Beweis genug, dass sich die einstmals so selbstbewussten Zentren der lokalen Zivilgesellschaft form- und farblos ins Konglomerat proprietärer Vergemeinschaftungsangebote einfügen.
Der Verein als lokal verankerte Institution der Vergemeinschaftung geht also seinem Ende entgegen, ganz tot zu kriegen ist er aber nicht. Als Rechtsform — meint in seiner nackten Gestalt — überlebt er allen Sturm. Einfacher — billiger — ist eine steuerbegünstigte juristische Person nicht zu bekommen. Es fragt sich nur, mit was die nackte Gestalt des Vereins in Zukunft bekleidet wird.
Annette Zimmer zufolge vollzieht sich Protest und Aufbegehren (Ja, auch die Vereinsmeierei war einst eine Form des Protestes und des Aufbegehrens!) heute ohne Organisation; nur koordiniert über das Internet.
Aber Proteste sind in der Regel kurzfristig. Sie konstituieren keine dauerhaften und belastbaren sozialen Beziehungen, die notwendig sind als Unterpfand einer langfristig angelegten Veränderung (ebd. 2012: 586).
In der Tat, der kurzfristige Protest — wie auch immer er koordiniert wurde — hat noch nie weit geführt. Dass aber für langfristige Veränderungen „dauerhafte und belastbare soziale Beziehungen“ notwendig sind, da bin ich mir nicht sicher.
Zumindest die Dauerhaftigkeit zweifle ich an. Aus den „weak ties“, die sich über das Social Web spinnen lassen, können sehr schnell belastbare Netze zusammengezogen werden, die dann eine kurze Weile energisch und äußerst kraftvoll für oder gegen etwas eintreten.
Solche Phänomene ziehen ihre Kraft gerade aus dem Sporadischen: Ihre Aktionen haben immer Event-Charakter und kommen wie aus dem Nichts. Shitstorms und Internet-Mems werden neben einer derart organisierten Zivilgesellschaft lächerlich kleinkariert, hedonistisch und richtungslos wirken, geben aber schon heute einen Vorgeschmack auf die Durchschlagskraft der neuen Vereine: Vereine mit klaren moralischem Impetus, die sich als lauernde Watchdogs mit Biss verstehen und nicht kläffende Köter sein wollen, die jedem hinter her wetzen, der eine rote Jacke trägt.
tl;dr: Der Verein hat als Organisationseinheit der Zivilgesellschaft noch lange nicht ausgedient.
Auch ich sehe die Zukunft ähnlich,
aber die Umstellung ist extrem schwer, da man gegen viele angestammte Gewohnheiten anläuft.
Der Beitrag hat mir sehr gefallen und läßt mich weiter Energie investieren.
Danke
Hallo Andre, vielen Dank für deinen Kommentar auf den ich gerade reichlich spät antworte. Verzeihung! Lesenswert zum Thema ‚Zukunftsfähigkeit‘ von Vereinen und Dienstleistern im sozialen Bereich sind auch die Beiträge von Doris Rosenkranz. Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit der „Deprofessionalisierung“ in der Pflege.
Gruß
Hannes