“Das Alte stirbt und das Neue kann noch nicht zur Welt kommen: Es ist die Zeit der Monster.”
Antonio Gramsci 1930
Dass wir als Menschheit monströsen Gefahren gegenüberstehen, ist nicht zu leugnen. Stichwort: Klimakatastrophe. Und auch in der Politik der westlichen Welt begegnet uns immer wieder Monströses: Russlands Überfall auf die Ukraine; der Angriff der Hamas auf Israel und dessen Reaktionen darauf; und nicht zu übersehen auch Donald Trumps andauernde Respektlosigkeit gegenüber Partnern und Freunden.
Aber warum in die Ferne schweifen?! Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus können wir Monströses auch vor der eigenen Haustür anschauen: zum Beispiel die Annäherung der Unionsparteien CDU und CSU an die AfD, die im Bundestagswahlkampf 2025 auf ungeheuerliche Weise deutlich wurde.
Die gemeinsame Abstimmung der Union mit der AfD Ende Januar 2025 wie auch die Kleine Anfrage der Unionsfraktion im Bundestag Ende Februar 2025 machte ihren Drift nach rechts augenfällig. Darüber hinaus erschien sie mir als eine monströse Wahlkampftaktik, die eine Regierungskoalition unter Beteiligung von Rechtsextremist:innen auf den Horizont des Möglichen rückte – und nebenher Parallelen zu den finstersten Kapiteln der deutschen Geschichte nahelegt.
Umfragen bei Politbarometer und DeutschlandTrend zeigten: Nicht der Mehrheit der CDU-Wähler:innen, nicht der Mehrheit aller Wähler:innen und auch nicht – das hoffe ich zumindest – den Herren Spitzenpolitikern der Union ist an Rechtsextremist:innen in der Regierung gelegen. Umso monströser erschien die Drohung damit und umso heftiger waren auch die Reaktionen darauf.
Doch welches Alte stirbt da gerade und welches Neue kann nicht zur Welt kommen? Was macht diese Zeit zur Zeit der Monster? Auf der Suche nach möglichen Antworten wühle ich mich seit einiger Zeit durch die Bücher von Andreas Reckwitz. Ich schreibe hier einmal auf, was ich für eine mögliche Antwort halte.
Die Versionen der Moderne und ihre politischen Paradigmen
Wenn man den Diagnosen Andreas Reckwitz’ glauben mag, geht mindestens die Zeit des apertistischen, des öffnenden Liberalismus zu Ende, wenn wir aktuell nicht sogar den Übergang zu einer neuen Version der Moderne oder gar ihr Ende erleben – vielleicht auch alles zugleich.
Bevor ich das etwas näher ausführen kann, müssen zwei Begriffe geklärt werden: der der modernen Gesellschaft und der des politischen Paradigmas.
- Die moderne Gesellschaft ist das Projekt der Soziologie – eine Sozialformation, von der niemand so genau sagen kann, wo sie anfängt und wo sie aufhört. Als grobe Eingrenzungen allerdings taugt zweierlei: (a) der geographische Bezug auf die westliche Welt (i.d.R. Europa und Nordamerika) und (b) der zeitliche Bezug auf die Gegenwart seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.
- Politische Paradigmen sind Problemlösungsansätze, die das übliche Rechts-Links-Schema überwölben. In allen politischen Lagern bestimmt das aktuell gültige Paradigma den Diskurs, bis es vom gesellschaftlichen Strukturwandel eingeholt wird. Es wird dann immer klarer, dass die negativen Nebeneffekte des politischen Handels dessen intendierten Nutzen systematisch übersteigen. Die Halbwertszeit politischer Paradigmen beträgt jeweils einige Jahrzehnte.
Die 3½ Versionen der Moderne
Andreas Reckwitz ist nicht der erste Soziologe, der zwischen verschiedenen Versionen der Moderne unterscheidet. Auch Ulrich Beck sprach schon von einer ersten und einer zweiten Moderne. Er illustrierte damit die gesellschaftlichen Veränderungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Reckwitz’ Versionierung ist allerdings differenzierter und weniger illustrativ als grundlegend für seine Analysen. Hier ein kurzer Abriss (detaillierter in Reckwitz/Rosa 2021: 99ff.):
Die Bürgerliche Moderne
Seinen Anfang nahm die moderne Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Die erste Version, die bürgerliche Moderne, entstand schon um 1800. Sie war geprägt von generalistischen Vorstellungen des Guten und Schönen; der Ermutigung zu Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Unternehmertum; einem Bildungsideal der Belesenheit; und der Schaffung von Räumen zweckfreier Betulichkeit – “interessenlosem Wohlgefallen” (Immanuel Kant).
Gegen diese eher nach außen, auf Status und Prestige, gerichtete Lebensführung formierte sich insbesondere in Kunst und Kultur zur selben Zeit die Romantik als eine Gegenbewegung – einer Art halbe Version der Moderne, deren soziale Praktiken erst viel später in dieser Geschichte wieder an die Oberfläche kommen. Kurz gefasst: Während der bürgerliche Mainstream des 19. Jahrhunderts stramm in Richtung formaler Rationalisierung marschierte, feierte die Romantik eher in sich gekehrt das Authentische und Einzigartige.
Die organisierte Moderne
Die zweite Version der Gegenwartsgesellschaft, die industriell-organisierte Moderne, wird nach dem Ersten Weltkrieg, Anfang der 1920er Jahre, dominant. Im aufkommenden Industriekapitalismus mit seiner fordistischen Kopplung von Massenproduktion und -konsum lösen sich alte Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat in einer nivilierten Mittelstandsgesellschaft auf, die bescheidenen Reichtum für die Mehrheit verspricht.
Die formale Rationalisierung aller Lebens- und vor allem Arbeitsbereiche eskaliert bald bis zum Totalitarismus und bis hin zum industriell-organisierten Holocaust. Doch auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist die organisierte Moderne – in Ost und West – vor allem durch staatliche Planung und einen deutlichen Hang zur Gleichmacherei geprägt.
Die Spätmoderne
Die dritte Version der Moderne, die Spätmoderne, wird in den 1970er Jahren dominant. Insbesondere der Shift weg von der Industrie- hin zur Wissensökonomie zersprengte den nivilierten Mittelstand in eine aufstrebende Kreativ- und eine von Abstieg bedrohte Dienstleistungsklasse. Es entsteht die “Gesellschaft der Singularitäten” (Reckwitz 2017), in der das Allgemeine (Massenproduktion, -konsum, -kultur etc.) in den Hintergrund und das Singuläre (das Neue, Originelle, Authentische etc.) in den Vordergrund gesellschaftlicher Strukturbildung tritt.
Den Lebensstil der Spätmoderne fasst Reckwitz mit dem Modus erfolgreicher Selbstverwirklichung. Und hier kommt die halbe Version der Moderne, die Romantik, wieder an die Oberfläche. Und zwar in in Gestalt einer überraschenden Symbiose, die die einstige Gegenkultur der Romantik mit den institutionellen Ermutigungen der bürgerlichen Moderne, etwa zum Unternehmerischen und zur Selbstverantwortung, eingeht. Die Selbstverwirklichung ist dabei nicht länger nach innen gerichtet, sondern nach außen – auf hochkompetitive Märkte, auf denen es zu bestehen gilt.
Die politischen Paradigmen der Moderne
Die verschiedenen Versionen der Moderne decken sich zeitlich ganz gut mit dem, was Andreas Reckwitz politische Paradigmen nennt (s.o.). Zwei dieser Paradigmen, die das 20. Jahrhundert domminierten, beschreibt Reckwitz in seinem Buch “Das Ende der Illusion” (2019: 239ff.):
- Das sozial-korporatistische Regulierungsparadigma, das die Politik in den USA ab den 1930ern und Deutschland ab den 1960ern prägte. Wichtige Protagonisten waren in den USA Franklin D. Roosevelt (“New Deal”) und in Deutschland Ludwig Erhard (“formierte Gesellschaft”). Ebenso prägend für dieses Regulierungsparadigma der Wohlfahrtsstaat (“Volksheim”) skandinavischer Länder.
- Das apertistische Dynamisierungsparadigma, das in seiner neo- wie linksliberalen Ausprägung ab den 1970ern die Politik moderner Gesellschaften dominierte. Zu nennen sind hier Protagonist:innen wie Ronald Reagan und Margret Thatcher, Tony Blair (“Dritter Weg”) und Gerhard Schröder (“Agenda 2010”).
Andreas Reckwitz sieht gute Gründe dafür, dass sich der apertistische Liberalismus seit den 2010er Jahren erschöpft. Er scheint von einem neuen politischen Paradigma abgelöst zu werden, den Reckwitz einbettenden Liberalismus nennt. Im Gegensatz zum apertistischen Liberalismus soll es sich hier wieder um ein Regulierungsparadigma handeln. Die Planungs- und Steuerungsphantasien des sozial-korporatistischen Paradigmas sollen hier aber nicht einfach ein Revival erleben. Vielmehr geht es im darum, dass die aus dem Ruder gelaufenen Entwicklungen seit den 1970er Jahren eingefangen werden – etwa die zunehmende soziale wie ökonomische Ungleichheit.
Die Zukunft der Moderne und die Monster auf dem Weg
Wenn es stimmt, dass sich der apertistische Liberalismus erschöpft und gleichsam die Spätmoderne zu Ende geht, stellt sich freilich die Frage, was wohl als nächstes kommt. Andreas Reckwitz skizziert dafür in seinem jüngsten Buch “Verlust” (2024: 414ff.) drei Szenarien, die ich gleich noch nennen will. Spannend aber ist auch die Frage, was dazwischen – in der Zeit der Monster – kommt.
Zunächst ganz kurz zu Reckwitz’ Szenarien:
- Weiterführung der Spätmoderne: Die aktuellen Verwerfungen könnten sich entweder als Hickups im Prozess der weiteren Modernisierung erweisen, die mit innovativen Technologien und oberflächlichen Reformen in den Griff zu bekommen sind. Oder: Das Epizentrum der Moderne könnte sich geografisch verschieben – etwa nach Ostasien, wo die Moderne auf andere Art fortgeschrieben wird.
- Zusammenbruch der Moderne: Entweder durch eine einzige Katastrophe (oder mehrere in kurzer Folge) oder einen längeren Prozess des institutionellen Zerfalls könnte die Moderne als Episode in der menschlichen Geschichte zu Ende gehen. Was folgen würde wäre ein (Überlebens-)Kampf aller gegen alle oder eine Renaissance vormoderner Strukturen kleinteiliger, lokaler, vor allem ländlicher Selbstversorgungsgemeinschaften mit geringer sozialer Komplexität und hoher Resilienz.
- Reparatur der Moderne: Durch eine reflexive Transformation geht die moderne Gesellschaft die grundlegenden Probleme der Spätmoderne an und macht daraus eine Tugend: Die radikale Offenheit der Zukunft geht nicht mehr einher mit dem Glauben daran, dass am Ende alles gut wird; die Zukunft wird nicht allein mit Innovationen, sondern vor allem mit bereits Erreichtem gestaltet; und die kreative Zerstörung richtet sich nicht länger auf die verletzlichsten Teile der Gesellschaft und ihrer Umwelt, sondern auf dessen Angreifer.
Welches dieser Szenarien unserer Zukunft auch immer am nächsten kommt: Solange das Alte tatsächlich zu Ende geht und das Neue noch nicht geboren werden kann, ist die Zeit der Monster. Eine Zeit, in der lieb gewonnene Selbstverständlichkeiten in Frage stehen und altbewährte Problemlösungsansätze nicht mehr funktionieren.
“Ihr [den Krisenzeiten] wichtigstes Symptom ist das, was man als internationale populistische Revolte zusammenfassen kann: eine vielschichtige Bewegung gegen die liberal geprägten Funktionseliten und deren ökonomische wie kulturelle Hegemonie im Namen eines imaginierten ‘Volkes'”
(Reckwitz 2019: 239).
Die eingangs erwähnten Monstrositäten gehören mit Sicherheit zu diesen Symptomen. Rechtspopulismen, die im Kern Verlusterfahrungen zu ihrem Vorteil zu verwerten suchen. Verlusterfahrungen, die die Spätmoderne besonders in den von (gefühlten oder faktischen) Abstieg betroffen Milieus geradezu im Überfluss produziert. Anhand des Ende Januar 2025 erhobenen Zuspruchs zu den unterschiedlichen Kanzler:innen-Kandidaten in den SINUS-Milieus wird das ganz gut ersichtlich.

Anerkennend könnte man den Populist:innen dieser Tage zugestehen, die Krise der modernen Gesellschaft prägnant erkannt und sich gegenüber dem alten Gegensatz von Neo- und Linksliberalismus erfolgreich in Stellung gebracht zu haben. Erfolgreich aber nur in dem Sinne, dass sie an diffusen Verlustängsten und konkreten Verlusterfahrungen anknüpfen, diese eigensinnig verstärken und damit Wähler:innen mobilisieren können. Allzu praxistaugliche Lösungen sind indes nicht in Sicht.
Und das ist, glaube ich, der Stoff, aus dem die Monster dieser Zeit gemacht werden: Mehr oder weniger wütende Rundumschläge, die all das treffen wollen, was nicht ins eigene Weltbild passt. Die Rechtspopulist:innen dieser Tage haben darin vielleicht am meisten Übung, exklusiven Anspruch auf die Fabrikation von Ungeheuerlichkeiten haben sie aber nicht. Was im politischen Tumult nämlich als monströs und was als weniger ungeheuerlich wahrgenommen wird, ist sehr unterschiedlich: Die einen fürchten sich schon vor gendersensiblen Satzkonstruktionen, die anderen vor Einschränkungen im Kantinenspeiseplan, wieder andere ängstigen die Auswüchse des digitalen Plattformkapitalismus und noch andere machen Vorstöße in Richtung Parteiverboten Angst.
Mir macht dabei der Eindruck Sorgen, dass die Sensibilität dafür verloren gegangen ist, welche Reaktionen einzelne Ideen und Vorschläge bei anderen auslösen können, was sie triggert und warum. Aber das setze ich ein anderes Mal fort.
Quellen
Reckwitz, Andreas (2019): Das Ende der Illusion. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. 7. Auflage: 2020.
Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. 6. Auflage: 2022. Berlin: Suhrkamp.
Reckwitz, Andreas / Rosa, Hartmut (2021): Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Berlin: Suhrkamp.
Reckwitz, Andreas (2024): Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. 3. Auflage: 2024. Berlin: Suhrkamp.