Brigitte Reiser schrieb neulich über das Sozialkapital, das durch den Einsatz von Social Media im dritten Sektor gebildet werden soll. Seit dem ich für die Akademie für Ehrenamtlichkeit Deutschland in Berlin unterwegs bin, habe ich des Häufigeren schon gehört, was denn so alles soziales Kapital bilden soll. Allem voran bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt. Doch wie soll das denn genau von statten gehen? Was ist eigentlich soziales Kapital? Und vor allem: Stimmt es, dass unsere Demokratie — oder noch schärfer: unsere Gesellschaft — durch soziales Kapital „besser“ wird?
Es gibt kaum eine Diskussion um das freiwillige Engagement oder Ehrenamt in der nicht zumindest kurz auf das Sozialkapital verwiesen wird. Das ist auch kein Wunder: Seitdem die Enquete-Kommission 2002 ihren Bericht zu bürgerschaftlichen Engagement in Deutschland veröffentlicht hat, tönt es aus allen Ecken: „Bürgerschaftliches Engagement bildet Sozialkapital!“ Schauen wir uns aber die Konzepte sozialen Kapitals an, mit dem die Enquete-Kommission ihren Begriff des Sozialkapitals untermauerte (vgl.: S. 34), stellt sich schnell etwas Ernüchterung ein.
Zunächst wird im Bericht das Konzept Robert D. Putnams aufgeführt. Putnam (2001) versteht Sozialkapital als Rückhalt und Vertrauen, das den einzelnen Individuen innerhalb sozialer Netzwerke Handlungssicherheit vermittelt, was ihn oder sie für die Gemeinschaft — aber auch für sich selbst — leistungsfähiger macht. (vgl.: S. 15ff) Da das Putnam’sche Sozialkapital demnach sowohl ein individuelles als auch ein öffentliches Gut ist und Putnam nach den Funktionsprinzipien der „guten Gesellschaft“ sucht (vgl.: Olk. 2004. S. 11ff), kann gelten: Je mehr Sozialkapital desto besser.
An diesem Konzept kritisiert Thomas Olk (2004) unter Berufung auf Margit Meyer (ebd.) unter anderem den systematischen Ausschluss politischer Oppositionen. Olk schreibt, dass das Sozialkapitalkonzept Putnams politische Gegenbewegungen auf gesellschaftlicher Ebene ausgrenzt, weil diese die große Gemeinschaft (Gesellschaft) nicht leistungsfähiger macht. Doch sind gerade (politische) Oppositionen integraler Bestandteil einer funktionierenden Demokratie. (S. 11f)
Hauptsächlich durch seine starke Ausrichtung auf die Utopie einer harmonischen Gesellschaft bringt das Sozialkapitalkonzept Putnams Schwierigkeiten mit sich, die es nicht zu lösen im Stande ist. Die durchaus sinnvolle Beschreibung sozialen Kapitals als Handlungssicherheit in sozialen Netzwerken wird mit der Ausrichtung auf eine „gute Gesellschaft“ eine zu rigide Richtung vorgegeben und so nur erhalten, was sowieso schon da ist.
Doch nicht nur das Konzept Putnams, auch das von Bourdieu hat in diesem Punkt so seine Tücken. Da Bourdieu zufolge sich nämlich soziales, ökonomisches und kulturelles Kapital gegenseitig erzeugen (können) (vgl.: Olk. 2004. S. 12) und insgesamt Machtpositionen ihres Eigners oder ihrer Eignerin begünstigen, sprechen politische Aktivierungskampagnen zum bürgerschaftlichen Engagement eher die an, die schon über entsprechendes Kapital verfügen. Jene aber, die sowieso schon ungenügende Netzwerke und wenig Geld haben — vielleicht auch deshalb nicht an legitimer Kultur partizipieren können — werden mit entsprechenden Aktionen nicht erreicht. Die Folge ist wiederum, dass soziales Kapital als Macht befördernde Ressource hauptsächlich Bürgerinnen und Bürgern aus höheren sozio-ökonomischen Milieus zukommt und dies wiederum Veränderungsprozesse — nämlich die von „unten“ — verhindert.
Freilich können wir hier anmerken, dass sich die staatliche Förderung bürgerschaftlichen Engagements aus den eben genannten Gründen auf Bürgerinnen und Bürger unterer Milieus ausrichten sollte, doch vergessen wir dabei den „Eigensinn des Engagements“ (Thomas Kegel). Sehen Bürgerinnen und Bürger nämlich eine Notwendigkeit dafür, werden sie sich Engagieren — egal ob der Staat es nun fördert oder nicht. Sie werden in ihren Engagementzusammenschlüssen gegenseitiges Vertrauen aufbauen und damit förderlichen Rückenhalt generieren. Durch die Handlungssicherheit, die jedem und jeder Einzelnen dadurch gegeben wird, können die Engagierten ihre eignen Vorhaben und Überzeugungen besser durchsetzen als die, die nicht in derartigen Assoziationen vernetzt sind. Sie profitieren von einem Sozialkapital, das sowohl als individuelle Ressource, als auch als Ressource der Gruppe oder des Zusammenschlusses, nicht aber als das der ganzen Gesellschaft gesehen werden kann.
Sollte Sozialkapital flächendeckende Verbreitung finden und so eine „gute Gesellschaft“ befördern, bliebe eigentlich nur die Vernetzung verschiedener Zusammenschlüsse. Da in unseren Breiten aber zentralstaatliche Organisationen wie die FDJ, die SED oder gar die HJ nicht mehr existieren, sind Netzwerke solchen (gesellschaftlichen) Ausmaßes äußerst unwahrscheinlich.
Zum Durchsetzen eigener Interessen ist es durchaus sinnvoll sich zu organisieren — das ist ein alter Hut. Das hoch gelobte Sozialkapital ist dann aber nichts anderes als das Wirken der Gruppe auf die Durchsetzung der einzelnen Interessen (Frage 2; siehe oben). Das „Wirken der Gruppe“ ist nun auch kein Mysterium mehr: Es ist der Rückhalt und die Handlungssicherheit, die dem oder der Einzelnen gegeben wird. (Frage 1). Und was ist mit der Frage nach der „besseren Gesellschaft“? Für mich kann ich sagen, dass dieses hier dargestellte Konzept sozialen Kapitals die Gesellschaft besser fördert. Es macht die Demokratie vielfältiger, die Oppositionen stärker und die Freiheit größer …
Sozialkapital
S
Ich betrachte das Konzept des Sozialen Kapitals primär vom Blickwinkel der Nonprofit-Organisation aus. Und zwar lege ich meinen Überlegungen austauschtheoretische Ansätze zugrunde.Von einer engen Kooperation mit der Bürgerschaft auf der Basis von Netzwerken profitieren beide Seiten: die NPO gewinnt Ressourcen (im weitesten Sinne), der Bürger im Idealfall Partizipationsmöglichkeiten. Das ist eine ganz nutzenorientierte, nicht-idealistische Betrachtungsweise. Der Austausch muss zum Gleichgewicht tendieren, wenn er Bestand haben soll. Dies gegen Bourdieu: so einfach ist es nicht, einseitig die Interessen einer Gruppe durchzusetzen, wenn eine Beziehung Zukunft haben soll.
Vielen Dank Frau Reiser. Ich habe mitlerweile die Befürchtung, dass es soviele Sozialkapital-Konzepte wie Positionen im gesellschaftlichen Raum gibt ;-). An die der NPOs habe ich noch überhaupt nicht gedacht — obwohl das natürlich auch eine Möglichkeit ist. Ich denke eher an die Position der (online) Engagierten. …
Engagement hat nicht mehr die Kraft verschiedene gesellschaftliche Gruppen zusammenzubringen. Dieser Effekt wurde von verschiedenen Autoren rund um Putnam auch beschrieben („Sozialdimension“ Offe u. Fuchs (2001)). Es gibt jedoch durchaus Institutionen fern ab von den genannten zentralstaatlichen, die in der Lage waren brückenbildend zu sein, also heterogen und somit Menschen mit viel und wenig Sozialkapital zusammenzubringen. In der Literatur werden dazu z.B. Gewerkschaften genannt. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass heute keine Institutionen mehr vorhanden sind, die diesen Zusammenhalt herstellen können.Es gibt aber durchaus Initiativen, denen das heute zumindest im Kleinen gelingt: Z.B. WikiWoods, denn zum Spaten zu greifen und Wälder mitzupflanzen bringt sehr unterschiedliche Menschen zusammen (niedrige Hürde), die während das Pflanzens gleich sind, egal wieviel Sozialkapital sie stammen.
Hallo Ingo, vielen Dank für dein Kommentar. Sicherlich spielst du auf den Tweet von letzter Woche an (04.05. 4:38 PM). Was das Bridging Social Capital angeht, denke ich, dass es dies, so wie es Putnam beschrieben hat eigentlich nicht gibt. Wiliam T. Coleman hat es auf einem Congress zu „Civic Engagement on the Move“ (2008) auf den Punkt gebracht. Er meinte, dass wir in jedem Abschnitt unseres Lebens immer wieder verschiedene Identitäten annehmen — wir schlüpfen in immer neue Rollen — was uns dazu befähigt immer andere Menschen als ‚Gleiche‘ anzuerkennen und mit ihnen zu kolaborieren. Freilich kann diese Art der Zusammenarbeit nur das so genannte Bonding Social Capital erzeugen, doch ausgehend von dem Sozialkapitalkonzept Boudieus, das weniger die Harmonie als die Unterschiede zwischen Mitgliedern der Gesellschaft hervorhebt, ist der Nutzen für das einzelne Individuum der Nutzen für die gesammte Gesellschaft. Das Sozialkapital als Rückhalt in einem Netzwerk aus Bekanntschaften ist also — auch via Internet — eine individuelle Ressource, die durch Vernetzung engagierter Menschen geschaffen wird.