Kultursensibilität via Flip-Flop-Technik

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Eine häufig geäußerte Kritik an der Social-Media-Kommunikation (zivilgesellschaftlicher) Organisationen und Unternehmen lautet, man würde ja nur alte Inhalte über neue Kanäle verbreiten und sich so des partizipativen Potentials des Social Webs verschließen. Diese Kritik ist nicht unberechtigt. Häufig wird weniger der Dialog als die Information in den Vordergrund gestellt, was sehr wahrscheinlich auf das mangelnde Verständnis für die partizipative Kultur der Sozialen Medien zurück geht. Sehr häufig werden Facebook & Co. als neue Schläuche für alten Wein genutzt, weil unreflektierter Weise angenommen wird, es handele sich hierbei ‚nur‘ um weitere Kanäle für die Öffentlichkeitsarbeit, die grundsätzlich den gleichen Prinzipien folgen. Dass dies nicht so ist, beweist der häufig mäßige Erfolg von Facebook-Auftritten (zivilgesellschaftlicher) Organisationen und Unternehmen, der durch viel erfolgreichere Auftritte von Salzbrezeln karikiert wird.
Erst kürzlich hatte ich über den Kulturschock Social Web geschrieben und dargelegt, dass wir es heute mit unterschiedlichen Kultursphären zu tun haben; auf der einen Seite die Kultur der Digital Outsiders, auf der andern die der Digital Natives. Das Zusammenführen dieser beiden Kultursphären, so die These des Kulturschocks, macht einen (mehr oder weniger) leidvollen Lernprozess erforderlich, den die wenigsten vollständig durchlaufen, wenn sie es nicht unbedingt müssen. Anliegen dieses vielleicht etwas abschreckend geratenen Beitrags war es, über das kennen und leben lernen der Kultur Sozialer Medien ins Gespräch zu kommen. Zwar wird allenthalben gefordert, Nonprofits (und analog dazu auch Forprofits) müssten die Kultur der Sozialen Medien on- und offline leben lernen, doch bleiben konkrete Hinweise darauf, wie ein solcher Lernprozess angestoßen und gestaltet werden könnte rar.
Eben diese Lücke möchte ich gemeinsam mit Julia Russau und selbstverständlich auch allen anderen Interessierten nun versuchen zu schließen. Die mittlerweile drängende Frage lautet: Wie können (zivilgesellschaftliche) Organisationen und Unternehmen ihre corporative Kultur weiterentwickeln, um die Potentiale des Social Webs künfig für ihre Anliegen besser ausschöpfen zu können? Diese Frage drängt, weil sich die genannten gesellschaftlichen Sphären zunehmend voneinander zu entkoppeln scheinen und der Brückenschlag zwischen ihnen mit der Zeit immer schwieriger zu bewältigen sein wird. Mit der Förderung von Kultursensibilität via Flip-Flop-Technik sei hier ein erster Aufschlag gemacht.

Kultursensibilität via Flip-Flop-Technik

Das oben angesprochene Missverständnis Sozialer Medien als weiterer Kanal für die herkömmliche (one-to-many) Öffentlichkeitsarbeit geht, wie gesagt, auf die unreflektierte Annahme gleicher Prinzipien zurück. In der Sprache der empirischen Sozialwissenschaft würde man von einer Annahme über die Beziehung vermeintlich zusammenhängender sozialer Phänomene sprechen, die als induktiv gebildete Hypothesen an der objektiven Realität zu überprüfen ist. In der Organisationsentwicklung werden solcherlei Missverständnisse auf mentale Modelle zurückrückgeführt, die tiefverwurzelte inne Vorstellungen vom Wesen der Dinge darstellen (Peter M. Senge 2008: 213). Ganz allgemein kann man aber auch von Vorurteilen, unzulässigen Verallgemeinerungen oder Ignoranz sprechen.
Der Grund dafür, warum unreflektierte Annahmen in den unterschiedlichen Disziplinen behandelt werden, ist darin zu suchen, dass sowohl die empirische Sozialwissenschaft als auch die Organisationsentwicklung und viele weitere Disziplinen mit diesem Phänomen zu kämpfen haben. Speziell in der empirischen Sozialwissenschaft können vorschnelle Verallgemeinerungen bzw. ungeprüfte Hypothesen über den vermeintlichen Zusammenhang sozialer Phänomene ganze Theoriegebäude zum Einsturz bringen. Dementsprechend wurden hier einige Ansätze entwickelt, solcherlei Fehlkonstruktionen zu vermeiden. Ansätze wie die Flip-Flop-Technik, die ich während meiner empirischen Forschungsarbeit bereits nutzte und durchaus für praxistauglich halte.
Die Flip-Flop-Technik ist eine Methode, um die theoretische Sensibilität beim Forschen zu erhöhen. Dabei werden die eigenen Annahmen über Beziehungen vermeintlich zusammenhängender sozialer Phänomene ‚auf den Kopf gestellt’ und genau vom Gegenteil der ursprünglichen Annahme ausgegangen (Strauss/Corbin 1996: 64ff.). Sollte der angenommene Zusammenhang tatsächlich bestehen, müsste er dieser Verkehrung Stand halten, tut er dies nicht, ist die Annahme zu verwerfen. Drei einfache Beispiele dazu:

  • Weil der Storch die Kinder bringt, gibt es dort, wo viele Störche sind, auch viele Kinder. So gilt: je mehr Störche, desto mehr Kinder. Gilt aber auch: umso weniger Störche, desto weniger Kinder?
  • Immer wenn die Bahnschranken unten sind, kommt ein Zug. So gilt: Bahnschranke unten = Zugdurchfahrt. Gilt aber auch: Bahnschranke kaputt = kein Zugverkehr?
  • Wenn der Hahn kräht, geht die Sonne auf. So gilt: Hahnkrähen = Sonnenaufgang. Gilt aber auch: Hahn geschlachtet = ewige Finsternis?

Die Flip-Flop-Technik lässt sich auf so ziemlich alle sozialen Phänomene anwenden, zwischen denen ein grundlegender Zusammenhang vermutet wird. So auch auf die Vermutung, Facebook & Co. wären nichts weiter als neue Kanäle für die Öffentlichkeitsarbeit und würden nach den gleichen Prinzipien funktionieren. Nimmt man — allen Evidenzen zum Trotz — nun an, es wäre tatsächlich so, gilt: Inhalte aus herkömmlichen Medienformaten (z.B. Pressemeldungen und Kleinanzeigen) sind auch in Facebook & Co. sinnvoll. Dann müsste aber umgekehrt auch gelten: Inhalte aus Facebook & Co. (z.B. Tweets und Statusmeldungen) sind auch in herkömmlichen Medienformaten sinnvoll.
Es ist anzunehmen, dass sich die Verfechter!nnen der medialen Leitkultur (Zeitung, Buch etc.) an dieser Stelle die Haare raufen. Man stelle sich nur eine Wochenzeitung voller 140-Zeichen-Texte über Ereignisse von vor mehreren Tagen vor. Genauso ist aber auch verständlich, dass die Digital Natives angesichts ellenlanger Artikel, die auch ich hier im Blog zuweilen veröffentliche, in weniger als einer Sekunde die Flucht ergreifen. Man stelle sich vor, auf Facebook würden alle schreiben wie Sigmar Gabriel.
Eindrucksvoll wurde die Sinnhaftigkeit dieser Verkehrung auch den Besucher!nnen der diesjährigen re:publica vor Augen geführt. Das precious design studio stellte hier eine analoge Twitterwall aus, auf der die Twitter-Konversationen auf und über die Konferenz aufgeklebt wurden.  Das Anliegen war zwar “bringing back the Action to digital communication, including hard work and dirty hands” (linotype.com), doch lässt sich wohl vermuten, dass sich das Medienformat der Wandzeitung nicht in der Kultur des Social Webs durchsetzt.
analoge Twitterwall mit zwei Personen (von hinten fotografiert)

Fazit

Wenn in der empirischen Sozialforschung durch die Flip-Flop-Technik theoretische Sensibilität erhöht werden kann, kann dieselbe Technik auch für die Steigerung von Kultursensibilität eingesetzt werden. Durch die Verkehrung der Annahme eines Zusammenhangs in ihr Gegenteil kann relativ unproblematisch überprüft werden, ob tatsächlich ein Zusammenhang besteht, oder nicht. Sicherlich braucht es etwas Übung um diese Methode im Alltag einzusetzen. Wer aber einen Moment inne hält und es versucht wird nicht mehr so oft auf die eigenen Vorurteile hereinfallen und sich in einer ‚wunderbaren‘ Welt, die uns häufiger stutzig machen sollte, besser zurecht finden. Gern könnt ihr damit anfangen den postulierten Zusammenhang zwischen theoretischer Sensibilität und Kultursensibilität zu überprüfen 🙂

Kommentare

  • Zu diesem Thema fällt mir gerade das Projekt „The Printed Blog“ von Josh Karp ein, der Blogbeiträge in einem gedruckten Magazin veröffentlichte. Grundsätzlich eine gute Idee, wie ich finde, um die Offline- und Online-Welt miteinander zu verbinden und Blogbeiträge einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Aber dass das Projekt 2009 gescheitert ist (inzwischen wieder neu aufgelebt?), kommt sicherlich nicht von ungefähr. Ein Beitrag, der in Hypertextform geschrieben ist, lässt sich kaum eins zu eins drucken. Dazu noch die fehlende Kommentarmöglichkeit in einem Magazin usw. Vom Gedankengang her, bin ich immer für solche Ideen zu begeistern, die On- und Offline mehr zusammenbringen wollen. Aber dazu müssen dann wohl ganz neue oder andere Formen her (anstatt alte Formen zu übertragen). Die FlipFlopTechnik ist ein guter Ansatz, um sich die Unterschiede zu verdeutlichen.
    Grüße.

  • Hallo Julia, prinzipiell finde ich die Wiederverwertung von Blogbeiträgen in Printform auch sehr gut, stimme dir aber zu, das es den Ausdruck noch mehr einschränkt. Eine Lösung könnte der Mittelweg sein, den das CCCD bei der letzten NPO-Blogparade angekündigt hat. Die Beiträge zu Bürgergrsellschaft und Social Web sollen hier in einem E-Book zusammengestellt und mit Editional versehen verbreitet werden. Wir werden sehen, ob und wie viele ‚Offliner‘ sich damit erreichen lassen.
    Gruß
    Hannes

      • … tja, da bleiben die On- und Offliner gern unter sich. Ich sag‘ ja, der Brückenschlag gehört gefördert, nicht das eine oder das andere.

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