Beschleunigung bis zum rasenden Stillstand

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Ich bin mir nicht sicher, ob ich Hartmut Rosas Band zur Beschleunigung in der Moderne empfehlen soll oder nicht. Das Ende nämlich – das konstatiert Rosa treffend – ist kaum eines, „um dessentwillen man eine Geschichte zu lesen oder zu schreiben beginnt“ (ebd. 2005: 489). Gelesen habe ich die Geschichte nun – und zwar in Rekordzeit. Nie zuvor habe ich mich so rasch durch knapp 500 Seiten wissenschaftlichen Text geackert, nie zuvor war ich auf das Ende der Geschichte so gespannt und wurde von selbigem so bestätigt, enttäuscht und frustriert zugleich.

Die Folgen der Beschleunigung

Selbstverständlich handelt es sich hier nicht um irgendeine Geschichte. Es geht um wissenschaftliche Erkenntnis. Abgeleitet aus der theoretisch fundierten Analyse dessen was war und dessen was ist, entwirft Rosa vier (mehr oder weniger) mögliche Zukunftsszenerien, von denen das wahrscheinlichste der totale Kollaps der menschlichen Zivilisation durch die fortwährende und unaufhaltsame Überforderungen natürlicher Ressourcen ist. Einziger Trost: Durch eben diese finale Katastrophe, die dem Menschengeschlecht wohl den Garaus machen wird, bleibt ihm das erspart, was Rosa als Fluchtpunkt des Projekts der Moderne versteht, nämlich der rasende Stillstand, der zu einer Art zweitem Fatalismus führt und unter  postmodernen Menschen die Depression gleichsam einer Epidemie (oder Pandemie) grassieren lässt.

Düstre Aussichten also für die Zukunft der Menschheit, zumal das Potential der digitalen Revolution unter dem Brennglas der Beschleunigung zu nichts mehr als einem weiteren Akzelerator zu werden droht, der von den Prozessen, die er selbst anstößt, ganz schnell überholt und schließlich abgehängt werden wird. Wie der moderne, bürokratische Staat und seine militärischen Strukturen – selbst die bedeutendsten Akzeleratoren der klassischen Moderne (Rosa 2005: 311ff.) – von den von ihnen entfesselten Märkten und dem weltweiten Terrorismus heute mehr als herausgefordert werden, drohen auch Verheißungen der digitalen Revolution – z.B. Liquid Feedback oder Maptivism – alsbald zu Bremsern im spätmodernen Alltag zu werden. Eine bemerkenswerte Passage aus dem Schlusswort Rosas sei diesbezüglich an dieser Stelle zitiert:

Die erste [und damit die unwahrscheinlichste] Möglichkeit besteht in der Tat in der Herausbildung einer neuen Form der institutionellen Hegung und Stabilisierung des Beschleunigungsprozesses und damit im Erreichen eines neuerlichen Equilibriums auf einem höheren Geschwindigkeitsniveau, das die Organisations- und Orientierungsleistung der ‚klassischen Moderne‘ wiederholt [Geschichte und Identität wieder zu einem gestaltbaren Projekt macht], indem es die zu langsam gewordenen sozialen, politischen und rechtlichen Institutionen und Arrangements des nationalen Wohlfahrtsstaates durch dynamische Einrichtungen ersetzt, die dann individuell wie politisch das ‚Projekt der Moderne‘ mit den Geschwindigkeiten der Spätmoderne versöhnen. Auf dieses Ziel richten sich die Reformhoffnungen derjenigen, die auf adaptive politische Maßnahmen unter Aufrechterhaltung des Autonomieanspruchs drängen. Ihre optimistische Haltung gründet auf der Vorstellung dass die infolge der höheren Dynamik vergrößerten Spiel- und Handlungsräume sich in verbesserte individuelle und politische Gestaltungschancen übersetzen lassen und damit das Autonomieversprechen der Moderne überhaupt erst einlösbar machen. Das individuelle, kulturelle und politische Handeln könnte sich nach und nach den spätmodernen Veränderungsgeschwindigkeiten anpassen, indem es neue Formen der Wahrnehmung und der Kontrolle entwickelt, möglicherweise sogar mithilfe neuer Gen- und implantierter Computertechnologien [man denke hier an das Manifest für Cyborgs].
Ich halte diese Hoffnung jedoch für unrealistisch, weil nicht zu sehen ist, wie jene Reformen das Problem der Desychronisation deliberativ-demokratischer Politik und ökonomisch-technischer Entwicklung in den Griff bekommen könnten und wie sie sich überhaupt politisch bewerkstelligen lassen, wenn eine politische Steuerung mit den vorhandenen Mitteln immer unwahrscheinlicher wird. Aber selbst wenn eine solche Revision des institutionellen Arrangements und, damit verknüpft, der individuellen und kollektiven Selbstverhältnisse in der Spätmoderne gelingen sollte, könnten die neu entstehenden Formen aufgrund des institutionenzersetzenden Charakters des Dynamisierungsprimats den neu gehegten Beschleunigungskräften wohl nicht lange standhalten: Nach der Logik der dargelegten dialektischen Entwicklung von Akzeleraktionskräften und institutionellen Entfaltungsbedingungen wäre damit zu rechnen, dass die so geschaffene ‚zweite Moderne‘ von noch kürzerer Bestandsdauer sein würde als die erste (Rosa 2005: 486f.).

Was bleibt?

Auf individueller Ebene ist es zweifelsohne des Menschen Natur, der wahrscheinlichsten Möglichkeit – der kollektiv herbeigeführten Apokalypse – entgegenzuwirken, sie zu vermeiden oder mindestens bis auf unbestimmte Zeit aufzuschieben. Auf gesellschaftlicher Ebene scheint das nicht der Fall: „Der Kapitalismus frisst seine Kinder“ (William Greider 1998) und wir alle sind Kapitalisten, mit Haut und Haar. Nicht etwa, weil wir wie eh‘ und je den materiellen Profit anstreben, sondern weil wir stets unser eigenes Fortkommen – mit Bourdieu, die Akkumulation sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals – auf Kosten anderer forcieren.
Viele von uns wissen bereits um diese kognitive Dissonanz, vielen aber wird sie niemals Gewahr, weil sich die unangenehme Beschäftigung damit leicht aufschieben lässt.

Und auch wenn wir nun versuchen durch Gamification, transmedia storytelling und dergleichen das Unangenehme aus der Beschäftigung zu nehmen, bleibt die Erkenntnis, das es nicht so weiter gehen kann, wie wir es gewohnt sind, unangenehm und damit ein Kandidat für Prokrastination: Wir spielen die Öko-Simulation bis zum Ende der Welt, vermeiden aber den notwendigen Schluss.

Wie nun umgehen mit diesen düsteren Befunden? Vorauseilende Resignation, vorgezogener Fatalismus und Depression stellen ja wohl kaum gangbare Optionen dar. Viel eher sind es Rosas letzte Zeilen, die ein Fünkchen Hoffnung lassen: So plädiert er nämlich für die Etablierung einer emanzipativen und interdisziplinären zeit-kritischen Theorie die soziale Fehlentwicklungen (z.B. solche, die auf ein Ende der Demokratie hinauslaufen) identifiziert und Gegenmaßnahmen vorschlägt. Dieser kritischen Theorie nach dem Vorbild der Frankfurter Schule müsste dafür selbstverständlich breite Beachtung geschenkt werden, was ich wiederum wegen der zeitaufwändigen Beschäftigung, in der man so viel ‚Nützlicheres‘ tun könnte, kritisch sehe.

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