In die Zeit, in der der Zugang zum Internet von den Vereinten Nationen zum Bestandteil der Menschenrechte erklärt wurde, passt sie wohl ganz gut — die Forderung die Wikipedia als UNESCO Weltkulturerbe anzuerkennen. Seit nun mehr 10 Jahren arbeitet eine Community von Wikipedianerinnen und Wikipedianer an der Umsetzung einer einst atemberaubenden Idee: Das gesamte Wissen der Menschheit für jedermann frei zugänglich machen.
Natürlich habe ich die Petition mitgezeichnet. Schließlich halte ich die Wikipedia für eines der größten — ja großartigsten — Online-Volunteering-Projekte der Welt, das m.E den exklusiven Status des ersten digitalen Weltkulturerbes verdient hätte. Welchen Umfang dieses Projekt aber genau hat, ist nur schwer zu sagen. Ende September 2009 überschritt die Zahl der angemeldeten Userinnen und User in Deutschland die erste Millionen.ˡ Zu den deutschen „Wikipedianern“ — den Userinnen und Usern mit mehr als zehn Beiträgen in der Wikipedia — zählten zu diesem Zeitpunkt 91.241 davon.² Ende 2010 waren es 103.134 — Tendenz steigend.² Diese Freiwilligen waren es, der die deutschsprachige Wikipedia ihre rund 1,2 Millionen Artikel zu verdanken hat.³
In welchem Maße die freie Enzyklopädie, dieses wunderbare Projekt, allerdings weiter wächst und dem Ideal freien Wissens für jedermann nahe kommt, hängt von den z.Zt. „aktiven“ und „sehr aktiven“ Wikipedianerinnen und Wikipedianern ab. Zu den „aktiven Wikipedianern“ wurden Ende 2010 6.410 Nutzerinnen und Nutzer gezählt, die mindestens fünf Beiträge innerhalb des vorangegangenen Monats beisteuerten.⁴ Zu den „sehr aktiven“ zählten Ende 2010 1.027 Wikipedianernnen und Wikipedianer, die im Vormonat der Erhebung mehr als 100 Beiträge schrieben.⁵ In diesen beiden Gruppen ist die Tendenz insgesamt allerdings sinkend. Während sich die Zahl der „sehr aktiven Wikipedianer“ seit 2008 knapp über der 1.000er-Marke einzupegeln scheint,⁵ sinkt die Zahl der „aktiven Wikipedianer“ seit 2006 stetig.⁴
Es werden also immer weniger, die immer mehr zum Gemeinschaftsprojekt Wikipedia beisteuern. Das kann eigentlich nicht verwundern, setzt die Wikipedia doch auf die Weisheit einer Community, die sich — wie alle Gemeinschaften — nach außen abgrenzt und nach innen schließt. Schon Christian Stegbauer, der die Wikipedia auf dem Stand von 2006 — also vor dem Rückgang der Zahl „aktiver Wikipedianer“ — netzwerkanalytisch untersuchte, bestätigt das (Stegbauer 2009). Er und sein Forschungsteam beschrieben die soziale Exklusion als einen wesentlichen Faktor für die recht hohe Produktivität der Gemeinschaft. Stegbauer schreibt, dass sich die Community als System, dessen zentrales Ordnungsprinzip der Fleiß ist, in ständigen Reputations- und Rollenkämpfen stabilisiert. Die größten Reputationsgewinnerinnen und -gewinner sind schließlich die, die aus der Autor(innen)schaft in das Ehrenamt eines Administrators / einer Administratorin gewählt werden — laut der Übersicht in der Wikipedia gibt es allein in Deutschland 295 dieser Amtsträgerinnen und -träger.
Es zeigt sich also, dass die Wikipedia ein kulturelles Phänomen ist, das sich ganz ähnlich erklären lässt wie andere, gemeinschaftliche Errungenschaften (Erben) der Menschheit. Die westliche Demokratie bspw. ist ein ebensolches Gemeinschaftsprojekt, das nie abgeschlossen sein wird und insofern auch ein kulturelles Erbe darstellt, das es zu pflegen gilt. Doch die Demokratie ist kein Weltkulturerbe! Warum sollte es dann die Wikipedia werden? So sehr ich mich bei meiner Suche auch bemühe, ich finde keinen Grund dafür; immer nur Gründe dagegen:
- Die Wikipedia wäre das erste digitale Weltkulturerbe und damit keinem Land der Erde zuzuordnen. Als Voraussetzung für die Nominierung wird allerdings die Ratifizierung der Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972 genannt, was natürlich einen ratifizierenden Staat voraussetzt.
- Die Kriterien für Weltkultur- bzw. Weltnaturerben, die Jimmy Wales im obigen Video erwähnt, können auf die Wikipedia schlecht angewandt werden, weil sie sich auf abgeschlossene Bauprojekte bzw. Gegebenheiten in der Natur beziehen. Was geschehen kann, wenn die Erben verändert werden, zeigt das ehemalige Weltkulturerbe des Dresdner Elbtals.
- Wegen eben dieser Schwierigkeiten bei der Veränderung eines Weltkulturerbes müssten im Falle ihrer Anerkennung noch schärfere Kontrollen in der Wikipedia eingeführt werden. Das würde die ohnehin schon sinkende Zahl der aktiven Freiwilligen, auf die die Wikipedia angewiesen ist, aber noch weiter schwinden lassen, weil das die Arbeit an der Wikipedia für viele dann frustrierend langwierig machen würde.
- Auch das Argument, dass die Wikipedia als Weltkulturerbe erhalten werden müsse (Von wem eigentlich?) kann nur bedingt gelten. Bis heute wird die Wikipedia allein über Spendengelder finanziert, weil sie ein unabhängiges Projekt sein soll. Würde die Wikipedia von einem (oder mehreren) Staat unterhalten, könnte das schnell Geschichte sein.
.@derfreitag "Lexikon will Denkmal werden" http://t.co/jOMgg9U | Die gleichen Bedenken hatte ich auch schon: http://t.co/OFuml7y #Wikipedia