Hier nun der letzte Teil meiner Reihe zur Zukunft des freiwilligen Engagements — vorerst. Ich hatte in den letzten Teilen dargestellt, in welchen Rahmenbedingungen freiwilliges Engagement (nicht erst in Zukunft) gestaltet werden muss. These #1 lautete, sich freiwillig zu engagieren muss wie Fernsehen, eine Aktivität friktionsloser Kurzweil, werden. These #2 lautete, Engagementförderung besteht nicht (nur) darin, abstrakte Versprechungen vom Ehrenamt zu vermarkten, sondern darin, den Return on Engagement erlebbar zu machen. Und die implizite These #3 lautete, die ganze Sache könnte zwar engagementförderlich — sprich ‚erfolgreich‘ — sein, könnte aber auch ziemlich in die Hose gehen — ich hatte gar vom „Ende des Ehrenamts“ geschrieben.
Nun ist es freilich eine verzwickte Angelegenheit, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Viel zu oft fällt man dabei auf das eigene Wunschdenken herein. Zu einfach ist es, sich ‚passende‘ empirische Befunde zusammen zu suchen und daraus ‚Trends‘ abzuleiten. Ein Beispiel: Nach der zweiten Welle des Freiwilligensurveys war in der Engagmentszene die Ansicht noch weit verbreitet, die Engagementförderung in Deutschland wäre wirklich so erfolgreich, dass sie die bundesdeutsche Engagementquote peu a peu anheben könnte — keine großen Sprünge aber solide Schritte. Nach der dritten Welle haben viele gemerkt, dass dem nicht so ist; viel eher stagniert die Engagementquote und wir müssen nach neuen Wegen zum freiwilligen Engagement suchen.
Um nun nicht erneut auf mein Wunschdenken hereinzufallen — auch ich war vom Erfolg der Engagementförderung mehr oder weniger überzeugt — will ich einen kleinen Kniff versuchen, den ich aus der Betriebswirtschaftslehre bzw. der Managementlehre oder noch genauer einer Vorlesung zu strategischer Planung kenne: die Szenariotechnik. Grundsätzlich geht es dabei um den gedankenexperimentellen Entwurf zweier Zukunftsszenarien: einem best case und einem worst case szenario. Wie gesagt, es ist recht einfach, eine vorgestellte Zukunft zu beschreiben; die Vorstellung formt den Text. Nimmt man sich nun vor, ein grelles Positivszenario und ein düsteres Negativszenario zu entwerfen, bekommt man genau das: Zwei Extreme zwischen denen irgendwo die wahrscheinliche Zukunft liegt.
Online- und Micro-Volunteering: die Flugzeuglandung
Das positive Zukunftsszenario der Engagementförderung mit situativ passgenauen Engagements, die den Return on Engagement erlebbar machen, habe ich mit dem Bild der Flugzeuglandung beschrieben. Hier waren die Freiwilligen jene, die Flugzeugen gleich, losgelöst von fester Struktur in der Zeit sind und sich je nach Situation zur Kontaktaufnahme mit der Außenwelt ‚verführen‘ lassen. Sie unterhalten sich per Funk mit anderen Pilotinnen und Piloten und steuern regelmäßig unterschiedliche Flughäfen an — Unternehmen, für die sie arbeiten, Familienstrukturen, in die sie eingebettet sind, (Aus-)Bildungsstätten, in denen sie sich qualifizieren (müssen). Neben diesen Basisinstitutionen moderner Gesellschaften (Erwerbsarbeit, Familie und Bildung) stehen an der Peripherie des modernen Lebensvollzuges allerdings noch weitere Flughäfen zur Auswahl — z.B. der Fitnessclub um die Ecke, kulturelle Angebote in der Region und Freiwilligenorganisationen mit ‚guten Zwecken‘.
Während die ‚Landungen‘ an der Arbeitsstelle, der Familie oder Bildungsinstitutionen mehr oder minder unausweichlich sind (deshalb Basisinstitutionen), stellen die anderen Möglichkeiten der individuellen Gestaltung frei zur Verfügung stehender Zeit dar, die prinzipiell frei gewählt und insofern gegeneinander abgewägt werden müssen. Wie gezeigt, spielt bei dieser Abwägung neben der grundsätzlichen Wahrnehmung der Option (a) der erwartete Return und (b) die Einschätzung der Realisierbarkeit des jeweiligen Engagements eine Rolle; Abwägungen, die zumeist auf der Basis vereinfachender Heuristiken getroffen werden und damit ‚von außen betrachtet‘ nicht unbedingt rational erscheinen (stark verkürzt: Fernsehen statt Ehrenamt).
Der erste Schritt dieser Landung an Flughäfen der gesellschaftlichen Peripherie besteht nun in der Kontaktaufnahme des Towers mit dem Piloten bzw. der Pilotin. Ganz allgemein kann das Bild dieser Kontaktaufnahme unter das Marketing bzw. die Öffentlichkeits- und Pressearbeit einer Organisation subsumiert werden, wobei allerdings daran zu erinnern ist, dass die Kultur des Social Webs andere Formen der Ansprache nötig macht, als sie in früheren Tagen noch Gang und Gäbe waren (Vom Flyer zu Facebook & Co.). Mit der Ansprache wird die erste Determinante der Entscheidung für ein freiwilliges Engagement anvisiert: die Wahrnehmung des Engagements als Handlungsoption.
Der zweite Schritt kann erst nach dem Engagement des Piloten bzw. der Pilotin, überhaupt auf die Ansprache zu antworten — sprich, Anschlusskommunikation möglich zu machen — gegangen werden. An dieser Stelle folgt nun die Offerte der Freiwilligenorganisation, ein friktionsloses Micro-Engagement ‚dazwischen zu schieben‘, das mit einem konkreten Return-Versprechen verbunden wird (vll. „Wenn du uns an dieser oder jener Stelle hilfst, kommen wir mit unserem sozialen Projekt weiter“). Das Versprechen des guten Gefühls, jemandem mit seinen Fähigkeiten geholfen oder auch ’nur‘ etwas dazu gelernt zu haben, bleibt für die Freiwilligen allerdings solange substanzlos, bis er (oder sie) es tatsächlich selbst erlebt und auch als solches erinnert. Nur die Erinnerung des Return on Engagement kann schließlich dazu führen, sich auch wieder zu engagieren — das nächste Mal vielleicht etwas länger, in einem Team, auf schon geringerer Flughöhe, schließlich steter in Form traditioneller Strukturen freiwilligen Engagements (Landung) und letztendlich (angekommen im Hangar) als ehrenamtliche Führungs- und Leitungspersönlichkeit.
Der entscheidende Punkt bei diesem positiven Szenario der Engagementförderung ist das Erinnern des guten Gefühls des ‚giving back‘, das durch die direkte Beziehung zwischen Organisation und Freiwilligen entsteht. An eben dieser Stelle wiederspricht das Szenario den Forschungsergebnissen Hartmut Rosas, der schließlich konstatiert, die Postmoderne würde durch die Kurz-Kurz-Muster der Erinnerung so erlebnisreich wie erfahrungsarm. Wäre dem nämlich so, würden Micro-Volunteers zwar ihren persönlichen Return on Engagement erleben, aber eben — wenn überhaupt — nur als kurzes Schlaglicht und nicht als wirklich positive Erfahrung erinnern. Hier setzt das, Rosa zufolge wahrscheinlichere, Negativszenario an.
Crowdsourcing: der ewige Blindflug
Mithin wird das Online- und Micro-Volunteering sowohl im angelsächsischen Sprachraum als auch hierzulande unter dem Schlagwort „Crowdsourcing“ lanciert. Der zentrale Gedanke dabei ist, aus der Crowd — wenn man es überspitzt ausdrücken will, der gesichtslosen Masse — Ressourcen für die Erreichung eigener Ziele zu akquirieren. Für die Veranschaulichung dieser Verheißung werden zumeist prominente Beispiele wie die Online-Enzyklopädie Wikipedia, die Wheelmap der Berliner SOZIALHELDEN oder das Projekt reCAPTCHA herangezogen. Dass „Micro-Volunteers“ damit z.T. unfreiwillig unbezahlte Arbeit für Wirtschaftsunternehmen leisten, denen sie sonst vielleicht eher kritisch gegenüber stehen, wird dabei gern unter den Teppich gekehrt (man denke hier an die „Volunteers“, die Facebook übersetzen oder jene, die die Datenbanken von Google mit OCR-untauglichen Informationen füllen).
Zwar gilt es bei Crowdsourcing-Projekten prinzipiell zwischen denen zu unterscheiden, die eine Verbindung der „Crowd“ mit dem jeweiligen Zweck des Projektes herstellen (Wikipedia oder Wheelmap) und jenen, die das nicht tun (reCAPTCHA, Duolingo, Microtask usw.), doch kann für beide gleichermaßen gelten, dass ein Mehr an Commitment damit nicht anvisiert wird. Vielmehr werden zwei unterschiedliche Gesellschaftssphären konstruiert — nämlich jene der Engagierten, die wissen, was getan werden muss und jene der Individualisten, die die Zielereichung möglich machen sollen –, die allein über die Mobilmachung, also das Marketing, aneinander gekoppelt sind. Abseits des eklatanten Demokratiedefizits (nicht gewählte ‚Eliten‘ meinen zu wissen, was getan werden muss) ist diese Vorstellung auch für die Engagementförderung problematisch. Dazu hier der Versuch, das Crowdsourcing in das Bild des Flugverkehrs zu integrieren:
Es kann weiterhin gelten, dass die Individuen der Crowd, Flugzeugen gleich, losgelöst von fester Struktur in der Zeit sind und zwischen den gesellschaftlichen Basisinstitutionen hin und her pendeln. Wie gesagt, die ‚Landung‘ im Erwerbsleben, den Familienstrukturen bzw. den gesellschaftlichen Institutionen der (Aus-)Bildung bleibt auch in der Postmoderne mehr oder minder unausweichlich. Flughäfen an der gesellschaftlichen Peripherie allerdings werden nur noch gelegentlich angesteuert; nämlich dann, wenn sich der jeweilige Pilot bzw. die jeweilige Pilotin zu einem Ausflug zum Sportstudio um die Ecke oder zu kulturellen Angebote in der Region verleiten lässt. Mitgliedschaften ohne Vertragsbindung und Grundgebühr, Drive-In-Angebote unterschiedlichster Couleur wie auch Produkte und Dienstleistungen ‚to go‘ müssen in diesem Bild immer weitere Verbreitung finden, weil sich der individualisierte — auf ‚flexicurity‘ angewiesene — Mensch in der Postmoderne sonst nicht mehr erreichen lässt. Von einer echten Landung irgendwo auf Flughäfen der gesellschaftlichen Peripherie kann hier gar nicht mehr gesprochen werden, weil die Pilotinnen und Piloten immer nur kurz aufsetzen, um dann gleich wieder durch zu starten.
Und auch die Freiwilligenorganisationen mit guten Zwecken tauchen in diesem Bild nur noch auf, wenn auch sie Dienstleistungen (Kinderbetreuung, Sport- und Kultur, Notrettung, Pflegedienste usw.) anbieten und zwar auf die gleiche Weise wie auch alle anderen: Ohne Vertragsbindung und wenn möglich ‚to go‘. Das Commitment potentieller Freiwilliger wird hier nicht mehr forciert, schließlich muss in diesem Bild davon ausgegangen werden, dass der postmoderne Mensch ohnehin keine positiven Erfahrungen damit macht. An die Stelle der Commitment-Förderung tritt der Versuch, die Bewegungen der Crowd (vll. auch nur die Abwärme der Motoren) für den Betrieb eigener Projekte zu nutzen. Dafür könnten die Pilotinnen und Piloten vielleicht darum gebeten werden, kleine Windräder auf den Dächern ihrer Flugzeuge zu montieren und so mit minimalen Friktionskosten „grünen Strom“ zu erzeugen. Oder sie montieren sich hochauflösende Kameras an die Unterseite ihrer Maschinen, um somit eine Echtzeit-Karte der Erdoberfläche zu erstellen. Vielleicht wird auch der Funkverkehr künftig nicht mehr peer-to-peer, sondern über die Bande einer Heerschar von Dolmetsching-Schülern laufen, sodass die Kommunikation in Echtzeit übersetzt und jedermann zugänglich wird.
Prinzipiell rückt die Organisation von Zivilgesellschaft als öffentliche Veranstaltung in diesem Bild hinter die pragmatische Erreichung gesetzter Ziele zurück, wobei unterschiedliche Marketing- und Motivationsstrategien zum Einsatz kommen, die die Individuen der Crowd zum Arbeiten verleiten sollen. Neben moralisierenden Überzeugungsstrategien, die ein ausgemachtes Problem möglichst dicht an die (‚die einzige‘) Lösung rücken, wird zunehmend auch die Gamification — also die Verbindung mit Kurzweil und Flow versprechenden spielerischen Elementen — mit dem Crowdsourcing verknüpft. Da somit der Zweck des Engagements von der eigentlichen Arbeit entkoppelt wird, gestaltet sich eine so entworfene Zivilgesellschaft so undemokratisch wie blind für die tatsächlichen Probleme, die sich in den alltäglichen Lebensbereichen der Menschen finden. Mit Hartmut Rosa wäre im Anschluss an Max Weber sogar zu konstatieren, dass wir es hier mit einem neuen stahlharten Gehäuse zu tun hätten, in dem die pragmatisch-rationale Arbeitsteilung soweit ausdifferenziert wird, dass jede Tätigkeit ihren Sinn in sich verliert und dementsprechend kaum noch mit dem eigenen Leben in Verbindung gebracht werden kann. Im Endeffekt wiederum: Beschleunigung bis zum rasenden Stillstand.
Fazit
Es mag sein, dass sich engagierte Unterstützerinnen und Unterstützer des Crowdsourcings dem Bild des ewigen Blindflugs nicht anschließen möchten. Schließlich — so könnte ihr Argument lauten — darf dem postmodernen Menschen ein gewisser Durchblick unterstellt werden, der ihm oder ihr die Entscheidung offen lässt, sich von dem einen oder anderen Projekt vercrowden zu lassen. Ignoriert man die Tatsache voranschreitender Ausdifferenzierung und Komplexitätssteigerung, mag das zumindest bei jenen Projekten, die eine Verbindung zwischen dem Anliegen (dem ausgemachten Problem) und der Arbeit der Crowd herzustellen versuchen auch stimmen, doch scheinen mir diese Projekte rar gesät. Viel häufiger sind Crowdsourcing-Aktionen, die mit moralischen Überzeugungsstrategien ansetzen oder die Arbeit völlig von ihrem eigentlichen Zweck entkoppeln. Bei ersteren stellt sich zumindest die demokratietheoretische Frage, wer den eigentlich entscheiden (und vermarkten) soll, was moralisch verwerflich ist und was nicht, bei zweiterer lässt sich darüber hinaus noch Fragen, ob solcherlei Engagements nicht vielleicht sogar psychische Schäden (insb. Depressionen) provozieren.
Um es an dieser Stelle deutlich zu sagen: Ich bin kein Gegner gesellschaftlicher Beschleunigung. Ich glaube nicht, dass Reservate der Entschleunigung öffentlich finanziert werden müssen, um müde Gewordenen eine Zuflucht zu bieten. Ich meine aber, dass gesellschaftliche Beschleunigung gestaltet werden kann und sollte. Insbesondere die Desychronisationserscheinungen zwischen den Subsystemen moderner Gesellschaften provozieren Exklusion, die zumindest dem Wording nach mit den Digital Natives (den Beschleunigten), den Digital Immigrants (den Beschleunigern) und den Digital Outsiders (den Beschleunigunsmüden) treffend beschrieben sind; eine Exklusion, die einer Gesellschaft teuer zu stehen kommt, wenn sie weiterhin dem Wachstumsprimat der globalisierten Ökonomie folgen will/muss/soll.
Was nun die wahrscheinliche Zukunft des freiwilligen Engagements anbelangt, bleibt festzuhalten, dass sie irgendwo zwischen den beiden entworfenen Extremen liegen wird. Allerdings sehe ich mehr empirische Evidenzen für den „Blindflug“ als für die „Flugzeuglandung“. Kurzfristig wird Crowdsourcing einigen (bei weitem nicht der Mehrzahl) zivilgesellschaftlichen und profitorientierten Unternehmungen mehr Rücklauf einbringen, langfristig aber wird diese Strategie immer exklusiver (Jene, die erfolgreich sind, werden immer mehr Erfolg haben als andere — Matthäuseffekt), bis schließlich einige ungewählte Eliten ihre Vorstellung ‚einer besseren Welt‘ durchsetzen. Welche Problemlagen sich dann tatsächlich in den privaten Lebensbereichen finden, ist für diese Eliten relativ unerheblich — wichtig ist vielmehr, ob sich das jeweilige Anliegen vermarkten lässt, was wiederum dazu führen dürfte, dass immer versucht wird noch einen Schritt weiter zu gehen.
Für mich ist das keine wünschbare Zukunft. Dennoch bleibt der Auftrag, gesellschaftliche Entwicklung — meint Beschleunigung — zu gestalten. Wir werden gemeinsam Wege suchen müssen, wie gute Erfahrungen — oder Erfahrungen überhaupt — mit zunehmender Individualisierung („losgelöst von fester Struktur in der Zeit sein) und steigender Mobilität (ständiges Durchstarten) noch möglich gemacht werden können. Auf eure Ideen, Kritikpunkte und Anregungen bin ich sehr gespannt.
PS: Das Video zum auf der Berliner SocialBar gefreestylten Vortrag „Neues Freiwilligenengagement“ reiche ich sobald als möglich nach.
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