Ich höre es wieder und wieder: Die meist jungen Demonstrant!nnen in der Türkei, in Spanien, in Ägypten, in Libyen und Tunesien organisier(t)en sich über das Web 2.0. — ja sogar die Mobilisierung der Opposition zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges soll über Facebook und Twitter gelaufen sein. In den Nachrichten zur „Arabellion“ scheint mir das Internet zu einer Art Wunderding stilisiert, mit dem jetzt alles möglich ist, was vorher nicht möglich war. Sicherlich ist das auch nicht ganz falsch: Kostenlose Videotelefonie kreuz und quer durch die Welt oder Kurznachrichten, die sich schneller über den Globus verbreiten als die seismischen Wellen eines Erdbebens waren vor der massenhaften Nutzung des Web 2.0 kaum denkbar. Und doch halte ich es für einen Mythos, dass die technischen Mittel und Möglichkeiten des Web 2.0 im Zentrum der revolutionären Bewegungen stehen. Ich meine sogar, dass die Mystifizierung des Netzes selbst ein Symptom der gesellschaftlichen Spaltung sein könnte, die den Aufständen zugrunde liegt.
Lina Ben Mhenni — vernetzt euch!
Lina Ben Mhenni — a tunesian girl — ist wie ich Jahrgang 83, Bloggerin und „ein freies Elektron“. In ihrem Essay „Vernetzt euch!“ erzählt sie eine echte Netzgeschichte; eine Geschichte aus dem Epizentrum der Jasminrevolution in Tunesien. Obgleich Ben Mhenni zur Zeit der Aufstände und darüber hinaus im Social Web sehr aktiv im war, stellt sich selbst nicht als Verursacherin oder Antreiberin der Revolution dar. Wie ein Elektron war sie nicht mehr und nicht weniger als der Teil einer größeren Masse, die sich ab Frühsommer 2010 zu einer nicht mehr zu übersehenden Bewegung aufschwang.
Die Tools — meint die neuen technischen Möglichkeiten des Webs — tauchen bei Ben Mhenni selbstverständlich auf: Fotos, Videos, Twitter-Streams und Facebook-Seiten, Google-Gruppen und natürlich Blogs sind ein so essentieller Teil der Geschichte, wie sie seiner Zeit auch Teil des Lebens Ben Mhennis gewesen sein dürften. Doch die Tools waren es nicht, die die Leute auf die Straße brachten. Es war die Wut über die weitgehende Missachtung ihres Kampfes für Freiheit und gegen Zensur, die die Bewegung antrieb. Als Schlüsselmoment ihrer Revolution beschreibt Ben Mhenni jedenfalls kein Szenario im Cyberspace. Was das Fass für sie zum überlaufen brauchte, war die Entführung ihrer Freunde Slim und Yassine durch die tunesische Geheimpolizei.
Was im Fortgang Ben Mhennis Jasminrevolution geschah, bzw. was sie davon berichtet, ist die beispiellose Geschichte von der Resonanz eines schnell wachsenden Netzwerkes gleich- oder zumindest ähnlich gesinnter Menschen — Menschen, die nur machtlos zugeschaut haben, bevor sie merkten, dass sie stark sind. Die Frage, wie das im einzelnen geschah und was wir daraus lernen können, beantwortet Ben Mhennis Geschichte nicht, dazu brauchen wir dickere Bücher …
Gerhard Schulze — Theorie der Szene
Gerhard Schulze erzeugte mit seiner Theorie der „Erlebnisgesellschaft“ in den 1990er Jahren einiges Aufsehen. Nicht nur, dass er es wagte, die Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus in Teilen in Frage zu stellen, er beschrieb auch die als Hedonismus verschriene Erlebnisorientierung als unmittelbare Form der nur menschlichen Suche nach Glück. Das Leben ein Erlebnisprojekt? Ja, meint Schulze und führt aus, dass sich in der Gesellschaft der späten 1980 Jahre umfassende Wandlungsprozesse beobachten ließen, die die Problemdefinition des alltäglichen Lebensvollzuges von außen nach innen kehrte.
Noch am Ende des 19. Jahrhunderts hatten die handlungsleitenden Problemdefinitionen der Menschen einen gemeinsamen Nenner, der sich allgemein als Außenorientierung bezeichnen lässt. Aus der Erfahrung von Knappheit und Bedrohung erwuchs ein Problembewusstsein, das an der Situation ansetzte. Es ging primär um äußere Lebensbedingungen: Ressourcen, Sicherheit, Vermeiden negativer und Erlangen positiver sozialer Sanktionen, Abwehr von Gesundheitsrisiken u.ä. (Schulze 2005: 67).
Diese Außenorientierung ging im Laufe des 20. Jahrhunderts und insbesondere mit der Einrichtung eines umfassenden Wohlfahrtsstaates allmählich zu einer Innenorientierung über: „Bedroht ist nicht mehr das Leben, sondern sein Sinn“ (Schulze 2005: 68). Anders gesagt: Menschen, die in einer Multioptionsgesellschaft (Peter Gross 1994) aufgewachsen sind, suchen nicht mehr Sicherheit und Geborgenheit. Die haben sie (satt)! Sie suchen die individuell richtige — sinnvolle — Option, wobei andere Menschen einen wesentlichen Faktor für die Einschätzung deren Qualität bilden.
Von diesem Punkt aus kämen wir schnell — zu schnell — zum Empfehlungsmarketing des heutigen Web. 2.0 und wären damit fluchs wieder bei den technischen Möglichkeiten, die das Internet heute bietet. Folgen wir aber den Überlegungen Schulzes kommen wir über alltagsästhetische Schemata und soziale Milieus zu Publika unterschiedlicher Erlebnisangebote und landen bei der Theorie der Szenen (ebd. 459ff.). Über das Modell dieser „Issue-Netzwerke“ hatte ich hier im Blog schon einmal geschrieben:
Szenen sind soziale Gebilde, die durch kollektive Inszenierung öffentlich sichtbar werden und sich selbst stabilisieren. Sie bestehen zunächst aus dem, was einst das Publikum war („The people formaly known as audience“) — einem Kollektiv ähnlich ‚gestrickter‘ Menschen, die ein bestimmtes „Erlebnisangebot“ (vom Block Buster im Kino bis zur Antifa-Demo) gemeinsam konsumieren (Schulze 2005: 460).
Das besondere an Szenen ist, dass sie sich ihrer Selbst gewahr und damit zu durchsetzungsfähigen Kollektivakteuren werden können, denen Politik, Wirtschaft und Verwaltung — wie übrigens auch der größte Teil der organisierten Zivilgesellschaft — ratlos gegenüber stehen. Damit sich allerdings das Publikum einer Szene seiner Selbst bewusst werden kann, sind Schulze zu folge sechs Bedingungen zu erfüllen (ebd. 462):
- Anschaulichkeit: Der Grad der Anschaulichkeit eines Publikums variiert zwischen den Polen des „individualisierten“ und des „lokalen“ Publikums. Während sich das individualisierte Publikum nicht sinnlich selbst wahrnehmen kann, ist das lokale Publikum eben dazu in der Lage. Ich denke, es braucht wenig Phantasie, das von Schulze auf physisches Zusammentreffen gemünzte lokale Publikum auf den Sozialraum des Web 2.0 zu übertragen.
- Kontaktintensität: Erst durch das Bestehen sozialer Kontakte innerhalb eines Publikums ist die kollektive Konstruktion eines Wir-Gefühls und die Abgrenzung zu anderen Szenen / zu anderen Publika möglich.
- Homogenität: Homogenität ist für Gemeinschaftsbildung (Wir-Gefühl) und Harmonie essentiell. Umso homogener ein Publikum zusammengesetzt ist, desto wahrscheinlicher ist, dass es sich als ein Kollektivakteur begreifen kann.
- Evidenz publikumsspezifischer Merkmale: Bedeutsam für die Selbstwahrnehmung eines Publikums sind nicht alle Gemeinsamkeiten der Teilnehmenden, sondern nur die, die sich nach kurzem Kontakt erschließen (Bspw. Alter, Geschlecht, Behinderung etc.).
- Signifikanz publikumsspezifischer Merkmale: Ob sich ein Publikum selbst als Kollektivakteur erkennt oder nicht, hängt auch davon ab, ob die zu erkennenden Gemeinsamkeiten für die Bewegungsrichtung relevant sind oder nicht.
- Vernetzung: Durch regelmäßige — redundante — Inszenierungen von Gemeinschaftlichkeit wird die Bildung intersubjektiver Kollektivbegriffe angeregt, die die Erfahrung von Gemeinschaftlichkeit wiederum verstärken.
Schluss — starke Netze?!
Schauen wir uns die Bewegungen an, die die Arabellion losgetreten haben sollen, sehen wir in der Tat junge, zu großen Teilen gut qualifizierte Menschen, die alle etwas gemeinsam hatten: Wut im Bauch über Perspektivlosigkeit und Missachtung ihres Kampfes um Anerkennung. Den Kriterien Schulzes zu folge reicht das allein aber noch nicht für die Ausbildung eines Kollektivakteurs. Wut im Bauch ist bei kurzem Kontakt nicht ersichtlich — im Gegensatz zu jugendlichem Aussehen (Punkt 4). Gleichwohl ist sie ein signifikantes Merkmal, das sich als intersubjektiver Kollektivbegriff (Punkt 6) auch noch selbst verstärkt (‚Wir sind alle wütend, das macht mich rasend‘). Kurzum: Der sehr komplexe Gewahrwerdungsprozess dieser Kollektivakteure setzte zweifelsohne nicht erst 2010 ein.
Zuerst werden einige Wenige „lokale“, weitgehend „homogene Publika“ gebildet und ein Problem definiert haben, das nicht nur sie selbst betraf. Das Problem der kleinen Publika wurde zu einem Problem einer Generation erklärt, womit die Öffnung für andere ohne die Gefahr der Aufgabe von Homogenität möglich war (‚Alles junge Menschen‘). Durch die selbstverständliche Nutzung des Internets — meint vor allem das Leben einer entsprechenden Kultur — war einerseits die Kontaktintensität der Teilnehmenden sehr hoch und ‚der Feind‘ andererseits schnell ausgemacht: Diejenigen, die sich in irgendeiner Weise der Netzkultur entgegenstellten (z.B. Überwachungs- oder Zensur-Phantasien pflegten) wurden automatisch zum Gegner der Bewegung.
Aus der Sinus-Milieustudie zu Vertrauen und Sicherheit im Internet wissen wir auch hierzulande um den alltagskulturellen Graben zwischen Digital Natives und Digital Outsiders, der sich durch die Gesellschaft zieht. Im Gegensatz zu den Ländern in denen sich Proteste nach dem Vorbild des arabischen Frühlings beobachten ließen, ist der Graben in Deutschland jedoch (noch) nicht so breit, dass keine Verständigung möglich wäre. In Tunesien, Libyen und Ägypten herrschten autoritäre Regime, die vor allem den konservativen Eliten — jenen auf der Outsider-Seite des digitalen Grabens — Vorteile verschafften und darauf angewiesen waren alle anderen mehr oder weniger offensiv zu unterdrücken. Das machte den kulturellen Graben breiter und breiter, sodass auch die Überwachung nur noch mäßig zielführend war, weil die Überwacher die jeweilige Kommunikation kaum noch einordnen konnten. Damit entstand eine Art Subkultur — im Wortsinne eine Kultur, die vom Mainstream weitestgehend abgekoppelt war –, die wiederum auf gängige, medial präsentierbare und damit unmissverständliche Praktiken des Protests zurückgriff.
Dass sich also die Demonstrant!nnen der Arabellion (teilweise) über das Netz organisierten steht außer Frage. Im Zentrum der Proteste stand und steht allerdings die Missachtung ihrer Interessen, die auf einer Alltagskultur beruhen, der die Machthaber und ihre Unterstützer!nnen ratlos gegenüberstanden. Eben diese Ratlosigkeit ist es, die sie dann zu Verzweiflungstaten verleitete (Internet blockieren, Strom abstellen, ‚Terrorzellen‘ ausheben usw.), die der Bewegung aber nur noch mehr Schwung verliehen, weil sich nun auch bislang nicht involvierte aus dem westlichen Ausland solidarisieren (darüber hatte ich das letzte Mal geschrieben).
tl;dr: Die Menschen, die einstmals nur machtlos-konsumtives Publikum waren, solidarisieren sich und merken dass sie stark sind. Die Rolle des Internets hierbei ist bemerkenswert, die Organisation von Demonstrationen über Facebook & Co. nicht.
…. übrigens in Brasilien werden auch gerade Proteste über Facebook und Twitter organisiert.