Das Schlagwort „Web 2.0“ begleitet uns ja nun schon eine ganze Weile. Und auch wenn „Web 2.0“ langsam out wird (siehe Google Trends), wird uns diese x.0-isierung voraussichtlich noch eine ganze Weile erhalten bleiben. Die x.0-Metapher scheint mir mittlerweile ein gängiges Instrument zu sein, um Diskussionen über digital-soziale Veränderungen anzustoßen oder zumindest Aufmerksamkeit für den eigenen Standpunkt dazu zu erhaschen — in der Diskussion um digital-soziales Engagement denke man vielleicht an „Ehrenamt 2.0“ (Thiedeke 2008) oder „Engagement 2.0“ (DJI und TU-Dortmund). Wie dem auch sei! Nehmen wir die x.0-Metapher als Marker für die Diskussion um digital-soziale Veränderungen, kommen wir um deren neustes Gespenst nicht herum: die „Industrie 4.0“.
Industrie 4.0
Die so genannte vierte industrielle Revolution soll nach der Indienstnahme von Dampf- und Wasserkraft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Industrie 1.0), dem Aufkommen der fordistischen Massenproduktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Industrie 2.0) und dem Beginn der Produktionsautomatisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Industrie 3.0) nun den Menschen vollends in die industrielle Maschinerie integrieren. Wie? Durch miteinander vernetzte, selbstständig ‚denkende‘ Arbeitsmittel: Datenbrillen und Tablets, über die die Menschen nachvollziehen können (sollen), was die über das Intra- und Internet verbundenen Gerätschaften gerade tun.
Ob in den „Smart Factories“ den so zu Cyborgs mutierten Menschen künftig jedwede Entscheidungsfreiheit genommen wird und wir uns also auf den Weg zurück zur Industrie 2.0 machen oder ob die neuen Möglichkeiten der digitalen Vernetzung zum industriellen „Cloud Working“ genutzt werden, ist prinzipiell offen. Mir schwant aber, dass die Sache für den Menschen nicht so gut ausgeht — sprich die anstehenden ‚Herausforderungen‘ zu Gunsten der effizienteren Maschinen ‚gelöst‘ werden.
Worin aller Voraussicht nach diese ‚Herausforderungen‘ bestehen, umreißen Martin Krzywdzinsk, Ulrich Jürgens und Sabine Pfeiffer im WZB-Brief vom September dieses Jahres:
- Ersatz menschlicher Arbeit: Die Produktionsautomatisierung der Industrie 3.0 ist noch nicht vorüber. Ganz im Gegenteil! Durch ‚intelligenter‘ werdende Maschinen wird auch in der Industrie 4.0 weniger Menpower für die Produktion gebraucht. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) geht von einem Minus zwischen 12 und 42% aus (Bonin/Gregory/Zierahn 2015).
- Abwertung von Qualifikationen: Ganz besonders die mittleren und unteren Qualifikationsgruppen — sagen wir Maschinenführer und Reinigungskräfte — werden es in den Reinräumen der Industrie 4.0 künftig schwer haben. Von der Abwertung der Qualifikationen waren bislang eher die mittleren Qualifikationsgruppen betroffen (Schweißer wurden zum Maschinenführer), jetzt werden sich auch die Reinigungskräfte spezialisieren oder einen anderen Job suchen müssen.
- Verschlechterung der Arbeitsbedingungen: Durch die digitale Vernetzung wird die Arbeit zunehmend entgrenzt und seitens des Managements besser kontrollierbar. Die Leistungskontrolle bspw. von Callcenter-Mitarbeitern (ein Paradebeispiel für die Dienstleistungsindustrie 4.0) ist heute schon so aussagekräftig, dass hier eine Art Akkordarbeit möglich wird: Wer im Callcenter mehr verdienen will, muss Kunden schneller ‚zufrieden‘ stellen. Die Entgrenzung der Arbeit wiederum betrifft die ständige Erreichbarkeit des „Always On“ und den Kontrollverlust über die eigene Arbeitsplanung. Beides — zunehmende Leistungskontrolle und Entgrenzung — sind wesentliche Negativ-Kriterien bei der Bewertung von Arbeit, wie sie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) auf seiner Webseite als Selbsttest anbietet.
Das alles hat natürlich nicht so wahnsinnig viel mit freiwilligem Engagement und Ehrenamt zu tun, oder? Doch!
Ehrenamt 4.0
Es ist eine Binsenweisheit, dass sich die Strukturen der Arbeitswelt auch in denen des Ehrenamts niederschlagen. Teilweise mit beträchtlicher Zeitverzögerung überlagern die im Erwerbsleben usus gewordenen ‚neuen‘ Arbeitsweisen (z.B. das Cloudworking) die alten. Bei dieser Überlagerung stirbt das Alte nicht gleich aus, wird aber zunehmend aus dem Mainstream verdrängt, bis es irgendwann ganz verschwindet. Am Wandel des Ehrenamts — hier einmal im Stile der x.0-Metapher von 1 bis 3 — lässt sich das ganz gut erkennen:
- Ehrenamt 1.0 ist das Mitgliederengagement in Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Verbänden sowie Sport- und Kulturvereinen. Es war früher bürgerlicher Mainstream, sich in einem Verein zu engagieren und wer wirklich etwas darstellen wollte, wurde Mitglied des Vorstandes. Heute müssen Mitgliederorganisationen schon ganz schön die Werbetrommel rühren und mit Bonbons locken, damit überhaupt noch jemand eintritt.
- Ehrenamt 2.0 ist das Engagement in Projekten, das in kleineren Vereinen und Initiativen mehr oder weniger professionell gemanagt wird. Vereine und Verbände (natürlich auch Kirchen), die sich modern zeigen wollen bieten genau dieses zeitweise Engagement in Projekten an, die einem am Herzen liegen — sei es weil der eigene Nachwuchs dran hängt (Sport, Schule, Kindergarten) oder weil man selbstlos tätig werden will.
- Ehrenamt 3.0 ist das auf Effizienz, Effektivität und Impact gebürstete Projektengagement. Dabei sind alle Mittel Recht, um allseitig gewinnbringend zu wirken: Über das Internet wird Flexibilität und / oder Anonymität gewährt, durch Reisetätigkeiten Urlaub mit Ehrenamt verbunden und Arbeitnehmer für die Teambildungsmaßnahme ‚Ehrenamt‘ freigestellt (mehr zu „Volunteer Work in the 21 Century“ hier).
Was nun zu folgen scheint ist das Ehrenamt 4.0 — ein Ehrenamt das mit „Human Computation“ wahrscheinlich treffend beschrieben ist. Menschen führen hier keine Maschinen mehr, sie ergänzen Maschinen nur noch dort, wo diese noch nicht soweit sind. Ein aktuell viel zitiertes Beispiel ist fold.it, ein experimentelles Desktop-Puzzel-Spiel bei dem es darum geht, komplexe Protein-Ketten zusammenzusetzen. Menschen — ganz besonders viele Menschen (die „Crowd“) — sind hierbei (noch) effektiver als Maschinen. Eine Maschine aber stellt die Spielumgebung; quasi die Struktur in dem sich die Menschen engagieren. Mitbestimmung? Pustekuchen!
Dunkle Zeiten?!
Die Integration des Ehrenamtes in die Welt vernetzter Maschinen und Algorithmen scheint angesichts der voranschreitenden Entwicklung der Industrie 4.0 nur eine Frage der Zeit. Zunächst steht die Integration vernetzter Maschinen und Algorithmen in das Ehrenamt an. Sie macht uns das Engagieren leichter und man kann damit auch bestimmt mehr Menschen für das Ehrenamt mobilisieren. Doch schon bald werden wir merken, dass das angesichts der schier unerschöpflichen Zahl von Problemen in der Welt nicht reicht. (Ein Grunddilemma des Ehrenamts: Es reicht nie.)
Werden wir dann sagen „na und“ oder werden wir alles tun, die ewig knappe Ressource Ehrenamt so effizient wie möglich einzusetzen? Was geschieht dann? Bleibt das Ehrenamt „Bürgerpflicht“, wenn es nichts mehr mit Bürgersein zu tun hat? Ist das Engagement noch attraktiv und bindend, wenn die ehrenamtliche Arbeit nur noch Maschinen lehrt, es besser zu machen? Wenn die Mitbestimmung und Mitgestaltung denen vorbehalten bleibt, die die Maschinen prgrammieren und führen können? Wer wird sich noch engagieren, wenn die Freizeit-Arbeit dann fremdbestimmt und präzise kontrolliert ist?
tl;dr: Ein — zugegeben — düsteres Zukunftsbild des „Ehrenamt 4.0“, in dem Menschen in der Welt der Maschinen und Algorithmen aufgehen. Mit der Bitte um Richtigstellung!