Der Socialblogger Ole Seidenberg fragt in der nun schon 16. Runde der NPO-Blogparade, wie sich Offline-Aktivitäten sinnvoll mit der Social-Media-Kommunikation verknüpfen lassen. Wie kann also das ‚tatsächliche Handeln‘ der Menschen auf der Straße mittels Social Media beeinflusst werden? Inwieweit kann die web-typtische Meta-Kommunikation überhaupt flankierend eingesetzt werden, wenn sie doch mehr und mehr zum Kern der eigentlichen Aktivitäten zu werden droht? Können wir das Netz tatsächlich nur nutzen um ‚mal drüber zu reden‘ oder lässt sich mehr aus dem Potential der Web-Kommunikation machen? Ich denke schon.
Anhand der Online-Aktivitäten des Aktionsbündnisses „Gera gegen Rechts“ und seinen Partnern will ich versuchen mich einer möglichen Antwort auf Oles Frage zu nähern. Gera scheint mir als aktuelles Beispiel deshalb interessant, weil dort – mal abgesehen von den VZ-Netzwerken – das Social Web offenbar noch nicht in dem Maße Einzug gehalten hat, wie hier in Berlin. Immer wenn ich nach Gera fahre um meine Eltern zu besuchen, bekomme ich die äußerst heilsame Gelegenheit meine eigene Social-Media-Affinität kontrastierend zu reflektieren.
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Nun soll am 10. Juli dieses Jahres in Gera zum achten Mal das Nazifest „Rock für Deutschland“ stattfinden. Nachdem im letzten Jahr über 4.000 Neonazis auf der Geraer Spielwiese – mitten in der ost-Thüringer Otto-Dix-Stadt – zusammenkamen und unter dem politischen Schirm der NPD den absonderlichen Ideen Michael „Lunikoff“ Regeners (Frontmann der kriminellen Vereinigung „Landser“) lauschten, befürchten die Geraer!nnen dieses Jahr noch einen größeren Ansturm national gesinnter Tourist!nnen. Dies vor allem weil sich die letztjährigen Unmutsbekundungen in Gera weitgehend in Grenzen hielten und das nationalistische „Fest der Völker“ in Pößneck als Alternative wegen heftiger Proteste für die rechte Szene zunehmend unattraktiv wird.
Anlässlich des diesjährigen „Rock für Deutschland“ gründete sich ein neues Aktionsbündnis Geraer Bürger!nnen, dass nun für Proteste am 10. Juli mobilisiert. Trotz der vermutlich geringen Social-Media-Affinität der meisten Geraer!nnen, werden die Aktionen von Social-Media-Kommunikation begleitet. Zum einen lassen sich aktuelle Informationen über Facebook und Twitter einholen, zum anderen wurden mehrere Blogs mit Hintergründen und frei zugänglichem Material eingerichtet. Aus Sorge um erwartbare Angriffe aus dem rechten Lager wurden zwar die Kommentar-Möglichkeiten abgeschaltet, doch finden sich Diskussionen und Kommentare ohnehin hauptsächlich im VZ-Netzwerk, was sicherlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass hier die viele jungen Menschen aus Gera aktiv sind.
Abgesehen vom E-Mail-Newsletter, der sicherlich noch eine sinnvolle Ergänzung zur beschriebenen Web-Präsenz wäre, scheint mir die Online-Kommunikation des Geraer Aktionsbündnisses durchdacht und angemessen. Über die Blog-Systeme (Es sind ja eigentlich keine Blogs.) werden Neuigkeiten und Informationen zum Protestvorhaben so präsentiert, dass sie für alle Altersgruppen leicht zugänglich sind – meint: weder durch neu-technischen Firlefanz verstellt, noch all zu radikal umrahmt werden. Über Facebook und Twitter werden Informationen gestreut und so potentielle Unterstützer!nnen auf die Aktion aufmerksam gemacht. In einer technisch gut zu moderierenden Gruppe im VZ-Netzwerk finden schließlich die Diskussionen statt, an denen sich vor allem die Geraer Aktivist!nnen beteiligen.
Sicherlich ist mit Facebook, Twitter und MeinVZ/StudiVZ noch viel mehr möglich, doch muss bei aller gut gemeinter Kritik immer daran gedacht werden, dass die Macher!nnen als Freiwillige wahrscheinlich auch noch ein Leben abseits ihres Engagements leben. Social-Media-Kommunikation bedeutet viel Zeit zu investieren. Zeit die eben die Aktiven, die diesen kommunikativen Part übernehmen könnten, zwecks Beruf und Familie häufig nicht haben.
Doch was ist nun mit den Mobilisierungspotentialen des Social Web? Welche Schlüsse lassen sich aus den Online-Aktivitäten des Geraer Aktionsbündnisses ziehen? Bleibt es beim ‚mal drüber reden‘ oder lässt sich wegen der 1327 Gruppenmitglieder im StudiVZ (Stand 20.06.2010) eine hohe Beteiligung am Tag X vermuten? Letzteres kann man natürlich nur hoffen; folgern lässt sich aus den dargestellten Aktionen m.E. folgendes:
- Das Potential der Online-Kommunikation sollte auch dort nicht unterschätzt werden, wo weniger Onliner aktiv sind. Die Informationen, die über die (Micro)Blogs des Aktionsbündnisses verbreitet wurden erreichen auch Offliner. Man braucht gar nicht so genau zu lesen um in den Artikeln der OTZ, des Stern oder anderen Illustrierten wiederzufinden, was in den Blogs bereits wohlrecherchiert zu lesen war.
- Online-Kommunikation sollte leistbar sein. Werden diverse Kanäle der Online-Kommunikation eröffnet, sollten sie auch bedient werden. Geschieht das nicht, gehen sie im dauernden Getöse der Sozialen Medien unter und alle Mühe war umsonst. Neben dem zeitlichen Aufwand, der nötig ist um regelmäßig zu ‚twittern‘ und zu ‚facebooken‘, meine ich mit ‚Leistbarkeit‘ auch, dass die Freiwilligen, die hinter den Blogeinträgen, Statusmeldungen und Tweets stecken, gern und sorgenfrei schreiben können müssen. Mit der – besonders im Engagement gehen rechte Gewalt – omnipräsenten Befürchtung verbaler Attacken ist das nicht vereinbar, weshalb aus meiner Sicht auch die Kommentar-Sperre hinzunehmen ist.
- Die Online-Kommunikation sollte angemessen sein. Ein Blick in die vielen Onliner-Studien kann helfen, die richtigen Tools zu finden. Im Falle des Geraer Aktionsbündnisses ist es natürlich nur sinnvoll über die Gruppen im VZ-Netzwerk zu diskutieren – das StudiVZ ist dort schließlich am weitesten verbreitet. Auch ist es natürlich sinnvoll über die Zielgruppen der Kommunikation nachzudenken und sich entsprechender Stilmittel zu bedienen. Mit einem radikalisierenden Schlachtruf („NAZIS RAUS“) sind Senioren – die in Gera einen beträchtlichen Anteil der Bevölkerung ausmachen dürften – wohl nicht von der Couch zu hohlen; mit dem Wink auf die Kleinen vielleicht schon eher („Keine Spielwiese für Nazis“)
- Die Online-Kommunikation muss wachsen. Auch im Falle einer rationalen Auswahl der Kommunikationstools und -stile bleibt Edward A. Murphys ‚Irgendwas ist immer‘ (Murphy’s Law). Welche Kanäle zur Kommunikation über die Aktion letztendlich genutzt werden und in welchem Stil, entscheidet schließlich der Austausch mit den User!nnen. Am sinnvollsten scheint es mir daher rechtzeitig viele verschiedene Kommunikationskanäle zu öffnen, sich nach und nach den jeweiligen User!nnen anzupassen und dann auch cross-medial vom einen auf den anderen zu verweisen (bspw.: „Interessante Diskussion zu friedlichem Protest und zivilem Ungehorsam in unserer Gruppe auf StudiVZ“)
Schlussendlich lässt sich nur schwer sagen, wie viele Aktivist!nnen über das Social Web mobilisiert werden können und wie viele über andere Kanäle von dem Aufruf hörten – eine eindeutige Antwort werde ich Ole also schuldig bleiben. Den Erfolg oder Misserfolg der (Online)Kommunikation des Geraer Aktionsbündnisses gegen Rechts wird man erst am Abend des 10. Juli einschätzen können um dann wiederum daraus seine Schlüsse zu ziehen. Wie so häufig bei Fragen nach dem ‚Wie könnte es besser gehen?‘ liegt die Antwort m.E. in der Sphäre strategischer Überlegungen – der Prozesskontrolle und der Steuerung. Um die reine Meta-Kommunikation, also das Mal-Drüber-Reden, zu vermeiden, braucht es immer ein Ziel (vielleicht auch noch Zwischenziele) und jemanden der bzw. die dessen Erreichung oder Nicht-Erreichung kontrolliert.
… Und noch ein kleines Video zum Abspann
[youtube http://www.youtube.com/watch?v=7E8kwZInH4U]
Update
Enno Schummers stellte heute eine interessante Slide-Show auf seinem Blog online, in der er die Verbreitung verschiedener Social Networking Dienste in Deutschland nach Bundesländern visualisiert. Grundlage für diese Kartographierung war die AGOF-Studie internet facts 2010 I (PDF), weshalb Facebook bei der Aufstellung leider fehlt.
[slideshare id=4656973&doc=20100625social-networksregionalv-100701030451-phpapp01]
Ich wage an dieser Stelle die Vermutung, dass eine vorgängige SND-Nutzungsanalyse im beschriebenen Beispiel wohl nicht gemacht wurde, sehe ich mich mit meiner These ‚Social Media Aktivitäten müssen wachsen‘ (Punkt 4) aber insofern bestätigt, als die Aktivitäten — wenn auch nicht strategisch geplant — in die ‚richtige‘ Richtung gewachsen sind. Voraussetzung hierfür war (und ist) natürlich ein engagiertes Kommunikationsangebot auf allen Kanälen, was m.E. aber all zu leicht zur Überlastung der Freiwilligen führen kann.
Für mich bleibt also festzuhalten: Besonders mit Blick auf die Belastungs- und Frustrationstoleranz von Freiwilligen hat auch die graue Statistik und ihre farbenfrohe Aufarbeitung sowie die strategische Planung in ihrer kühlen Gestalt durch aus ihren Platz in ernst gemeinten Engagement-Projekten.
Update II:
Auf Indymedia ist am Abend des 10. Juli 2010 (22:47h) noch ein kurzer Bericht über die Protestaktionen in Gera veröffentlicht worden. Der Bericht wurde zwar — wie auf dieser unabhängigen Publikationsplattform üblich — anonym veröffentlicht, doch nehme ich an, das er aus dem antifaschistischen Lager der Protest-Tourist!nnen stammt.
„Protest-Tourismus“ meine ich dabei mitnichten negativ! Erfahrungsgemäß leisten diese fahrenden Antifaschisten gute Blockadearbeit, was sicherlich auch an der umfangreichen Erfahrung mit dieser Form des zivilen Protests liegt. Dem Engagement der Geraer aber, die in ihrer Heimatstadt das erste Mal wirklich gegen Rechts mobil gemacht haben, kann das nicht nahe kommen. Ich würde daher sagen: Diese Kritik bitte zu Herzen, aber nicht all zu ernst nehmen.
Update III
Auf dem Blog der Elsterpiraten erschien gestern ein Bericht zu den Protestaktionen gegen Rechts in Gera. Tenor: ‚Nazifest nicht verhindert — doch es gilt ja auch mehr zu verhindern als Nazifeste‘
[…] an, in der Ole Seidenberg nach einer sinnvollen Verknüpfung von On- und Offline-Aktionen fragte („Wie holen wir sie von der Couch“). Dabei geht es allerdings nicht um Kampagnen-Arbeit sondern — dem Themenfeld des […]
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