Eine der beliebtesten Erörterungsfragen im Deutschunterricht war in meiner Schulzeit – und ist es wohl auch heute noch – ob der Nationalsozialismus, der zum zweiten Weltkrieg geführt hat, in heutiger Zeit noch möglich wäre. Voller Überzeugung habe ich diese Frage stets mit einem klaren „Nein“ beantwortet. Mit dem Glaube an eine umfassende Informiertheit der Bürgerinnen und Bürger mittels unabhängiger Medien, konnte ich mir – wie wohl auch meine Mitschüler(innen) – nicht vorstellen, dass je wieder irgendjemand behaupten könne, er oder sie habe es nicht gewusst. Nicht gewusst, dass Menschen verfolgt, verschleppt und ermordet werden. Auch die Gleichschaltung eines Gros der Bevölkerung schien mir damals undenkbar. Leben wir doch in einer Welt, wo jeder und jede alles glauben und meinen darf. Wo sich Menschen mit gleicher Gesinnung und gleichen Problemen zusammenschließen und gegen einen gesellschaftlichen Missstand protestieren können …
In letzter Zeit neigte ich hin und wieder dazu, diese Argumentation – die sicher jeder Leser und jede Leserin selbst vervollständigen kann – zu überdenken. Zum einen, weil ich einen großen Teil der Berichterstattung für schon lange nicht mehr unabhängig halte und zum anderen, weil es ja auch nicht darum geht, irgendwann einmal so etwas zu sagen wie: „Wir haben doch nichts gewusst!“ oder: „Was hätten wir denn tun sollen?“ Es geht darum zu verstehen, was gerade vor unseren Augen passiert. Zu fragen in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt und in welche sie sich entwickeln sollte. Um es hier abzukürzen: Es geht um engagiertes und vor allem kritisches Mitgestalten.
In Zeiten weltweiter Krisen, die ein permanentes Gefühl der Unsicherheit mit sich bringen, nutzt die politische Elite auf der ganzen Welt eben diese gefühlte Unsicherheit, um mit wagen Versprechungen von Sicherheit und Frieden Wahlkämpfe zu gewinnen. Das es nur wage Versprechungen sind, lässt sich noch mit der politischen Ethik von der ungewissen Sicherheit begründen (Wagner 2005). Das aber die Angst vieler Wählerinnen und Wähler als Nährboden für die Sicherheits- und Friedensversprechungen ausgenutzt wird, scheint mir eine höchst fragliche Praxis. Zum einen, weil Angst Verzweiflung, Hass, Agression und Gewalt ervorbringt, zum anderen, weil sich die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, vor dem Zerbrechen sozialer Netzwerke oder vor dem so genannten „internationalen Terrorismus“ mit seiner politisch-medialen Fokussierung und Sensibilisierung im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung immer wieder bestätigt.
Meinen Politikerinnen und Politiker im Wahlkampf bspw. gegen die Arbeitslosigkeit zu Felde ziehen zu müssen, rücken sie das eigentliche Problem – die Ungleichverteilung von Geld, Bildung und Einfluss – in den Hintergrund. Sie verschweigen, dass dies das eigentliche Problem ist und auf anderem Wege (vielleicht durch ein bedingungsloses Grundeinkommen [?]) durch aus eine Gesellschaft ohne bittere Armut versus unsäglichem Reichtum möglich ist. Aber die Angst ist nun mal ein guter Ansatz für einen gelungenen Wahlkampf. Warum sollte man den aufgeben?
Ebenso von einer – zumindest statistisch – unberechtigten Angst profitiert auch die Sicherheitspolitik á la Wolfgang Schäuble. Für den Kampf gegen den Terrorismus werden Überwachungskameras eingerichtet und Fluggastdaten sowie Telefonverbindungen „verdachtsunabhängig“ gespeichert. Mit den Problemen, die sich daraus ergeben, beschäftigen sich Ilija Trojanow und Juli Zeh in ihrem Buch „Angriff auf die Freiheit – Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte“.
Wie es der Titel schon verrät, sehen Trojanow und Zeh die präventiven Maßnahmen gegen terroristische Anschläge, die in Deutschland glücklicher Weise bisher ausgeblieben sind, äußerst kritisch. Bei dem „Überwachungswahn“ – so der Autor und die Autorin – geht es weniger um innere Sicherheit als viel mehr um die Kontrolle bürgerlicher Lebensentwürfe, die westlichen Staaten, mangels sowjet-russischen Feindbildes, in den letzten 20 Jahren mehr und mehr abhanden gekommen ist (ebd. 120ff). Trojanow und Zeh schreiben, dass hinter dem Schleier der angeblich permanenten Bedrohung durch amorphe also nicht greifbare Netzwerke verschiedenster Übeltäter (Kinderschänder, Terroristen oder Raubkopierer), von staatlicher wie auch von wirtschaftlicher Seite panoptische Werkzeuge in Stellung gebracht werden, die auf Disziplin und Konformität zielen, Straftaten aber keines Wegs zu verhindern im Stande sind.
Irgendwie sind wir nirgends mehr allein. Bei allem, was wir tun könnten wir beobachtet werden. Wir müssen uns dementsprechend oft überlegen, ob wir unser Handeln rechtfertigen können. Es läuft immer mehr darauf hinaus, uns selbst zu disziplinieren und in die Zukunft zu denken. Sicherlich kann dies im Sinne Norbert Elias’ – also einem „Prozess der Zivilisation“ – positiv dargestellt werden, doch gibt es einige schwer wegzuargumentierende Schwierigkeiten bei dieser ‚Disziplinierung gesellschaftlicher Praxis’.
Neben der Behinderung einer kreativen Spontanität, die schon so oft zu erstaunlichen Ergebnissen führte, sind es vor allem die langfristigen Wirkungen panoptischer Methoden, die mir persönlich Sorgen machen. Wenn wir uns vor Augen führen, zu welchem Zweck das Panoptikum (oder Panopticon) von dem Architekten, Juristen und Philosophen Jeremy Bentham – einem der Begründer der Philosophie des Utilitarismus – entworfen wurde – nämlich für Gefängnisse, Fabriken und ähnliche Anlagen – liegt es nahe, dass es auf gesellschaftlicher Ebene genau die Wirkung entfalten könnte: Disziplin und Konformität.
Wenn Konformität aber auf diese Weise zur Generaltugend der westlichen Welt werden sollte, werden auch gesellschaftliche Verhältnisse zimentiert, die viele von uns heute schon nicht gut finden (Als Beispiel sei hier noch einmal die Ungleichverteilung von Geld, Bildung und Einfluss genannt). Freiwilliges Engagement in Form von Protest und Unmutsbekundungen, das in Deutschland seit den späten 60ern seine ganz eigene Geschichte hat, nimmt damit perspektivisch nicht nur ab – es wird auch systematisch verhindert.
Friedrich Krotz zeichnet bezüglich der aktuellen Ausweitungen staatlicher Kontrollmaßnahmen auf das Internet ein recht düsteres Bild der Online-Bürgergesellschaft. In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „merz“ (4/2009, 12ff) stellt er unter anderem fest, das sich neue Koalitionen gebildet haben, die mit unterschiedlicher Motivation am gleichen Projekt arbeiten – dem gläsernen Bürger bzw. der gläsernen Bürgerin. Die Analyse, das Vorhersagen und die Steuerung menschlichen Verhaltens, so Krotz (S. 20), interessiert nicht nur die Wirtschaft (von Bosch bis Bertelsmann) sondern auch den Staat – oder genauer die Machthaber(innen). Mit dem Verweis auf die Kolonialisierung bürgerlicher Lebenswelten, die Habermas schon 1983 ankündigte, schreibt der Autor:
„Das aber bedroht die Demokratie im Kern, weil es die Zivilgesellschaft ruiniert. Ohne Zivilgesellschaft, die auf der freien Meinungsäußerung, auf dem vernünftigen Diskurs aller und auf dem Recht staats- und auch wirtschaftsfrei gestalteter privater Räume beruht, wird die Demokratie zum Objekt der Kompromisse zwischen Wirtschaft und Politik …“ (Krotz 2009, 21).
Sicherlich sollte man nicht gleich von einer Renaissance des Nationalsozialismus sprechen, doch scheinen mir wirtschaftliche sowie politische Interessen an der Erzeugung von Konformität und Disziplin äußerst bedenklich. Wundern müssen wir uns zumindest nicht, dass die so häufig beschworene Bürger- oder Zivilgesellschaft in Deutschland eher ein randständiges Thema bleibt, wenn im politischen Diskurs lediglich die Mitarbeit in sozialen Projekten, nicht aber der engagierte Protest als „bürgerschaftliches Engagement“ betitelt, gefordert und gewürdigt wird.