Der digitale Wandel schafft neuen Raum für menschliche Emotion und Kreativität. Soweit die optimistische Botschaft der Trendstudie »Siegeszug der Emotionen«. Die Lektüre aber stimmt nachdenklich: Wie können wir als Deutsches Rotes Kreuz die Chancen der Digitalisierung für die Verletzlichsten der Gesellschaft nutzbar machen und Risiken minimieren? Ein Blick nach vorn, ins post-digitale Zeitalter.
Was kommt nach der Digitalisierung? Was ist, wenn die techno-sozial beschleunigte VUCA-Welt die neue Normalität ist? Was, wenn sich niemand mehr über Unbeständigkeit (volatility), Unsicherheit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Mehrdeutigkeit (ambiguity) wundert? Was, wenn sich alle daran gewöhnt haben, dass die Welt nun mal so ist?
Das Frankfurter Zukunftsinstitut beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Frage, wie wir den Hysterien unserer hypervernetzten und -beschleunigten Zeit entgegentreten können und identifiziert in ihrer Trendstudie zum »Siegeszug der Emotionen« eine neue Emotionalität als mögliche Antwort.
Zukunft: Trends & Gegentrends
Dass Prognosen schwierig und häufig unzutreffend sind, trotzdem aber ihren Wert haben, hatte ich schon in meiner Rezension zum Zukunftsreport 2018 geschrieben: Wir können nicht wissen, was die Zukunft genau bringt. Die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Trends allerdings kann uns Hinweise darauf geben, in welche Richtung es möglicher Weise geht – oder auch nicht geht!
Ja, es ist komplex: In den seltensten Fällen nämlich verlaufen gesellschaftliche Entwicklungen linear. In der Regel entsteht die Zukunft aus Kombination und Gleichzeitigkeit ganz unterschiedlicher Entwicklungen. Mit Blick auf die beiden Szenarien, die ich unlängst zum »Menschsein im post-digitalen Zeitalter« skizzierte, wird wohl weder Emotionalität allein noch die totale Fremdbestimmung unser aller Zukunft sein.
Und dennoch prophezeien die Autorinnen und Autoren des Frankfurter Zukunftsinstituts den »Siegeszug der Emotionen«. Warum?
Achtsamkeit: digitales Getöse & gutes Gefühl
Der digitale Wandel hat mehr mit Emotionen zu tun, als man annehmen möchte. Neben der Werbung – ob für Kaltgetränke oder politische Überzeugungen – wird auch das Technik-Design immer weiter ›vermenschlicht‹, um Emotionen zu wecken. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung nennt die Roboterpsychologin Martina Mara das Beispiel selbstfahrender Autos, deren niedlich gestaltete Scheinwerferaugen uns Menschen die Angst nehmen sollen. Und auch dem putzigen Service-Roboter »Pepper« sollen wir uns gern anvertrauen.
Gegen solcherlei Versuche, unsere Emotionen zu manipulieren, hilft nicht allein das rationale Denken. Zu flüchtig, zu vielfältig und zu schnell vorüber sind die Eindrücke die jeden Tag auf uns einprasseln. Wir brauchen unser ›Bauchgefühl‹, unsere Emotionen, die uns helfen, uns im digitalen Getöse zu orientieren. Wichtig ist dafür, zwischen Reiz (Kindchenschema) und Reaktion (Oh, wie niedlich!) zu unterscheiden. Diese Achtsamkeit ist der stärkste Motor für selbstwirksames Handeln in der VUCA-Welt.
Orientierung: Gemeinschaftlichkeit im Wandel
Ein zweiter Grund, warum die Autorinnen und Autoren des Frankfurter Zukunftsinstituts einen »Siegeszug der Emotionen« voraussagen, ist der Wandel von Gemeinschaftlichkeit, den der Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder sogar als eine Grundform der Digitalität beschreibt. Kurz gesagt führt dieser Wandel weg von ›Gemeinschaften der Worte‹ und hin zu ›Gemeinschaften der Taten‹ – weg von der Zugehörigkeit per Mitgliedsausweis und hin zu Wertegemeinschaften aktiv tätiger Menschen.
Weltweit agierende Konzerne wie etwa Harley Davidson, Red Bull oder Apple haben den Wert dieser neuen Gemeinschaften schon vor langer Zeit erkannt. Mit starken Narrativen wie etwa ›Familie und Zugehörigkeit‹ (Harley Davidson), ›Action und Nervenkitzel‹ (Red Bull) oder ›Innovation und Design‹ (Apple) liefern sie Kristallisationspunkte für weltweit vernetzte Communities, die ihren Mitgliedern Sinn und Orientierung geben. Aber: Wer die Produkte nicht kauft, kann nicht mitmachen.
Wie auch der täglichen Reizüberflutung kommen wir diesen sozialen Zwängen nicht allein mit rationalem Denken bei. Wir Menschen brauchen Gemeinschaft, Verbundenheit und positive Beziehungen. Einsamkeit macht uns auf Dauer krank. In der post-digitalen Zukunft müssen wir aber mit der Flüchtigkeit und Instabilität neuen Gemeinschaften umgehen. Und Emotionen, genauer gesagt, eine emotionale Verbindung zu den eigenen Anliegen, können uns dabei helfen. Sie bieten uns Orientierung, einen Fixstern, für den eigenen Weg durch den Dschungel der »Multioptionsgesellschaft« und ihren »Teilzeit-Gemeinschaften«.
Fazit: Selbstbestimmung im bunten Strudel der rasenden Zeit
Die Trendstudie zum »Siegeszug der Emotionen« macht die Bedeutung von Achtsamkeit als bewusste Trennung von Reiz und Reaktion in der post-digitalen Welt deutlich. Eine Welt, die sich immer schneller wandelt und uns Menschen die Fähigkeit abverlangt, uns selbst ständig zu verändern. Für diese Fähigkeit ist mehr als Köpfchen nötig. Auch Otto Scharmer zeigt in seinem famosen Buch zur »Theory U«, dass echte Veränderung alle Sinne braucht. Was nun die Frage betrifft, ob reflektierte Emotionalität oder Fremdbestimmung durch Algorithmen unserer Zukunft ist, hängt es wohl davon ab, welche Ressourcen (Bildung, Netzwerke, Einkommen, Gesundheit, freie Zeit etc.) dem oder der einzelnen zur Verfügung stehen. Es ist zu befürchten, dass jene, deren (Arbeits-) Alltag kein ›New Work‹ zulässt, sich auch nicht mit ›Inner Work‹ beschäftigen und folglich Gefahr laufen, im bunten Strudel der rasenden Zeit den Boden unter den Füßen zu verlieren.