Die zweite Woche im Ausnahmezustand ist vorbei. Es wurden keine Ausgangssperren verhängt, dafür ein Kontaktverbot ausgesprochen. Zu Hause bleiben und Abstand halten, ist weiterhin die Devise.
In meinem – zum Glück ganz gut ausgestatteten – Home Office habe ich mich mittlerweile häuslich eingerichtet. Ich schaffe mir tägliche Routinen, versuche mich ausreichend zu bewegen und anständig zu ernähren. Das Gefühl, dass die Tage so vor sich hin dröppeln und konturlos in einander übergehen, bin ich allerdings noch nicht ganz losgeworden.
Die Frage nach Geselligkeit auf Distanz (»Distant Socializing«), die ich letzte Woche mit den psychischen und mentalen Folgen von Einsamkeit in Verbindung brachte, hat an Relevanz nicht verloren. Im Gegenteil: Zumindest nach meinem Eindruck werden die Fragen nach funktionierender Technik allmählig von der nach guter Organisation abgelöst – Organisation, die die sozialen Aspekte der Teamarbeit statt ihrer Effizienz und Effektivität aufs Trapez heben.
»Invented« statt »Invited Spaces«
Eine auf Dauer recht anstrengende Herausforderung bei der Kommunikation auf Distanz ist die deutliche Reduktion der Sinneseindrücke. In Telefon-Gesprächen und Video-Konferenzen muss eigentlich alles, was face to face implizit mitläuft, explizit gemacht werden: die Zustimmung, die Ablehnung, die Freude, die Trauer, die Wut, die Verzweiflung – alles! Das passiert natürlich nicht; zumindest nicht in dem Maße, wie es bei einer physischen Begegnung möglich ist. Telefon-Gespräche und Video-Konferenzen haben für mich deshalb immer etwas ›künstliches‹, etwas ›technisches‹ an sich – ein kaum zu vermeidender Eindruck, der durch prozesshafte Ergebnisorientierung (Moderation, Timeboxing, TOPs und ToDos) noch verstärkt wird.
Für Kommunikationsräume dieser Art leihe ich mir gern den Begriff der »Invited Spaces« aus der Politikwissenschaft aus. Bezeichnet werden damit top-down geschaffene Beteiligungsmöglichkeiten, mit denen ein bestimmtes Thema in einer vorgegebenen Struktur verhandelt wird. Als »Invented Spaces« dagegen werden bottom-up entstehende Kommunikationsräume bezeichnet, die thematisch nicht oder nur lose vorstrukturiert sind (z.B. hier).
Die Kommunikation in Sozialen Medien und in ›Web 2.0-igen‹ Formaten wie BarCamps bietet die Möglichkeit für die Entstehung solche Räume. Vorgegeben wird hier lediglich eine (technische) Struktur, in der potentiell alle möglichen Themen verhandelt werden können. Dabei geht nicht um die Aus- und Verhandlung im Sinne der Abstimmung und Konsensfindung (dafür braucht man »Invited Spaces«), sondern viel mehr um den Aufbau und die Pflege guter Beziehungen – um Resonanz und Geselligkeit also.
Spielen ist menschlich!
Das ›technische‹ an der Kommunikation kann mit der Digitalisierung von »Invented Spaces« natürlich nicht vermieden werden. Die Reduktion der Sinneseindrücke bleibt herausfordernd. Ohne die verbissen prozesshafte Ergebnisorientierung allerdings kann die Kommunikation eine andere, eine spielerischere, intuitivere werden. Und genau das kann sie menschlicher machen. Denn, das wusste schon Friedrich Schiller:
Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
Besonders deutlich ist mir das beim 3D-BarCamp Ende vorletzter Woche geworden. Eingeladen hatte Henning Behrens zu einem Event »fast wie in der Realität«. Eine der acht Sessions – »Agile Spiele« – hatte Kathrin Bischoff angeboten, mit der ich zuvor schon einen Ausflug in AltspaceVR gemacht hatte. Deutlich wurde mir dabei zweierlei: Zum einen, dass man sich neue digitale Umgebungen besser ›erspielen‹ kann, als dass man sie einfach nur verstehen müsste. Zum anderen, dass das spielen mit den gegebenen Möglichkeiten (Hand heben, Beifall klatschen, lächeln usw.) zuverlässig Reaktionen anderer hervorruft, die die Interaktion schon recht ›real‹ wirken lassen. Das Spiel mit den Avataren beim 3D-BarCamp hat dies sogar noch verstärkt, weil da eben kein echter Mensch vor einer Webcam zu sehen war, sondern nur der Avatar.
Zwischenfazit: Geselligkeit spielend neu erfinden
Themenoffene Kommunikationsstrukturen, die ich hier »Invented Spaces« nenne, bieten einiges Potential für Geselligkeit auf Distanz. Nach meinem Eindruck zeigt sich das auch abseits von Video- und VR-Konferenzen in den Sozialen Medien. So hat sich die durchschnittliche Interaktionsrate in meinem Twitter-Stream seit Beginn des Ausnahmezustandes vor zwei Wochen glatt verdoppelt. Ohne es genau ausgezählt zu haben, würde ich behaupten, dass das nicht nur auf Retweets, Likes, Profil- und Link-Klicks sondern zu einem großen Teil auf die gestiegene Zahl von Kommentaren und Diskussionen zurückzuführen ist.
Was Video- und VR-Formate anbelangt, glaube ich, können »Invented Spaces« ganz ähnlich wirken. Der Eindruck des ›technischen‹ wird dabei auch mit VR-Headset nicht zu vermeiden sein, wäre mit spielerischen Elementen aber vielleicht gut zu kaschieren. Im Gaming-Bereich – genauer aus dem Massively Multiplayer Online Role-Playing Games – kann man sehen, dass das gut funktioniert: Die Spielenden begegnen sich hier ja zunächst auch nur als Nicknames und Avatare in Chat- und Voice-Umgebungen, erleben das Spiel aber nicht allein, sondern in Gruppen, Clans und Gilden. Vielleicht – und das ist wirklich nur eine Vermutung – ist es gerade das scheinbar reale Bild einer Person vor der Webcam und das Küchenregal im Hintergrund, dass uns das Gemeinschaftserleben vermiest. Natürlich möchten wir unser Gegenüber sehen, doch erinnert uns die Scheibe, das Rauschen und Knattern dazwischen immer wieder an die bestehende Distanz, die wir damit doch eigentlich überwinden wollen.