Von der VUCA-Welt haben die meisten schon gehört. Seit ein paar Jahren wird das alte Militär-Akronym für volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige Situationen vor allem genutzt, um darauf hinzuweisen, dass lineares – schnelles, einfaches – Denken heute allein nicht mehr funktioniert. Und das soll besonders im Management gelten. Eben da aber kann man allenthalben genau das Gegenteil beobachten: Die ach so hohe Komplexität wird auf ziemlich einfache Faustregeln reduziert, Unsicherheiten durch detaillierte Planung vermieden und Mehrdeutigkeiten einfach ausgeblendet. Aber weil das so natürlich nicht funktioniert, weil man mit Faustregeln ziemlich oft daneben liegt, weil überall „Schwarze Schwäne“ lauern, die frech die Planung kreuzen, und weil nicht hinsehen eben auch keine Lösung ist, erscheint die Welt doch ziemlich volatil und das VUCA-Akronym passt doch wieder.
Soweit das Intro zum einfachen, auf eine schnöde Mode reduzierte, Verständnis der VUCA-Welt. Dabei könnte man es durchaus belassen. Es macht ja zuweilen wirklich Sinn, Mode-Themen, wie VUCA eines ist, in das alltägliche Erleben zu integrieren, ohne damit mehr anzufangen, als gelegentlich aus dem Bauch heraus mitzureden. Alternativ kann man sich aber natürlich auch fragen, was mit in der VUCA-Welt wichtiger wird, worauf es heute vielleicht etwas mehr ankommt als früher.
Das Andere der VUCA-Welt
Neulich, bei einem digitalen Netzwerktreffen des Compassorange-Schwarms, haben wir das neue Buch von Martin A. Ciesielski und Thomas Schutz „Digitale Führung (nicht nur) in Krisenzeiten“ diskutiert. Ciesielski und Schutz stellen darin dar, welche Kompetenzen im Management besonders ausgeprägt sein sollten, wenn es um erfolgreiches digital Leadership geht. Kurz gesagt: Jede Menge! Das Buch loht sicher einen vertieften Blick. Was ich bei der Buchvorstellung aber besonders interessant fand war, dass Ciesielski und Schutz der VUCA-Welt etwas entgegengesetzt haben.
Meine Haltung zu VUCA ist eigentlich die des Liebhabens: Ständig passiert irgendwas spannendes, das in einer durchgeplanten Welt voller Eindeutigkeiten und funktionierender Faustregeln gar nicht denkbar wäre. Für die Frage aber, worauf es beim Management in einer zunehmend digitalen Welt mehr ankommt als früher und an welchen Kompetenzen man mehr arbeiten sollte, finde ich den Gedanken des Anderen der VUCA-Welt ziemlich spannend.
Volatil <> Vision
In volatilen Situationen, die die VUCA-Welt kennzeichnen, fehlt die Orientierung. Wenn einst vielleicht Verfahren und Prozesse vorgeben konnten, was, wann, wie zu tun ist, grassieren heute oft Unklarheiten. Es gibt eben viele Wege, viele Möglichkeiten, aber nicht alle führen zum selben Ziel. In Verbindung mit der so oft beschworenen Eigenverantwortung wird das zu einem handfesten Problem, wenn das Ziel gar nicht klar ist.
Das Andere der Volatilität ist die Vision – eine mehr oder minder konkrete Erzählung von dem, wie es sein sollte. Auf kurze Sicht natürlich können diese Visionen als SMARTe Ziele beschrieben werden: Eine Abendveranstaltung im nächsten Sommer, die unter der Woche stattfindet und bei der sich zehn Projekte präsentieren, soll bitte so viel Spaß machen, dass die Gäste bis Mitternacht bleiben. Auf längere Sicht freilich wird es zunehmend neblig: Für eine enkeltaugliche Zukunft!
Uncertainty <> Understanding
Die Unsicherheit darüber, was, wann, wie zu tun ist, blockiert eigenverantwortliches Handeln. Verlangt werden deshalb oft abgestimmte Verfahren und Prozessen, in deren Rahmen sich sicher handeln lässt. Das Problem daran: Verfahren und Prozesse neigen zur Erstarrung und unterminieren als abstrakter Kontext, für den niemand so wirklich etwas kann, jede Eigenverantwortung. (Das macht man hier halt so!) Dieser „stahlharte Käfig“ (Max Weber) ist in einer sich rasant verändernden Welt sicher kein brauchbares Anderes der Unsicherheit.
Vielmehr sind Erläuterungen gefragt, was, wie und warum passiert. Das Andere der Unsicherheit ist das Verstehen! Und das erzählende Erklären (Storytelling) ist eine der wichtigsten Kompetenzen des digital Leadership. Dabei geht es sicher nicht um Weissagungen und auch nicht um retrospektives Schönreden. Es geht darum, dem abstrakten Kontext eine gestaltbare Form anzudichten, darum, Verständnis und Empathie für alle Beteiligten – auch für die im stahlharten Käfig (!) – zu wecken und realistische Szenarien zu zeichnen, die Handlungen mit ihren Konsequenzen in glaubhaften Zusammenhang bringen.
Complexity <> Communication
Schon seit dem Mittelalter – das zeigte Norbert Elias in seinem „Prozess der Zivilisation“ – nehmen die Interdependenzen, die Verflechtungen zwischen dem was passiert, weltweit zu. Heute ist die Welt längst nicht mehr nur maschinengleich kompliziert. Mit all ihren ineinander verflochtenen Netzwerken ist sie so komplex geworden, dass oft gar nicht mehr zu sagen ist, welche Aktionen welche Reaktionen hervorrufen. Auch hiervor kann man in Ehrfurcht erstarren, die Füße still und den Mund fest geschlossen halten.
Das Andere der Komplexität ist die Kommunikation – das ständige Bemühen um die Möglichkeit der Trennung von Mitteilung und Information im Moment des Verstehens (Niklas Luhmann). Es geht nicht etwa nur um das Erzählen! Wer ständig auf dem Senden-Knopf steht, kann nicht zuhören und wird nicht begreifen, dass das Gegenüber in dem Mitteilungsbrei gar keine Information mehr findet. Es geht auch nicht nur um schweigendes Zuhören. Es geht um Anschlusskommunikation, um wechselseitiges in Bewegung setzen und also auch um Resonanz.
Ambiguity <> Agility
Die VUCA-Welt erscheint uns als permanentes Sowohl-Als-Auch. In der Interaktion unter Anwesenden – hier einmal nur am Beispiel der Körpersprache – wird das ziemlich deutlich: Verschränkte Arme und Beine können zum Beispiel als Feindseligkeit interpretiert werden, obwohl sie gar nicht so gemeint sein müssen. Genauso verhält es sich mit einem freundlichen Lächeln, das ebensogut rachseelige Genugtuung wie echte Zugewandtheit bedeuten kann. Da die kommunikativen Codes in verschiedenen Netzwerken stark variieren, ist wendig-tastendes – agiles – Vorgehen in mehrdeutigen Situationen sehr sinnvoll.
Das Andere der Ambiguität ist die Agilität – auch ein bisschen ein Modewort, in dem Vision, Verstehen und Kommunikation zusammenlaufen. Agile Frameworks wie SCRUM allerdings zielen nicht nur auf die Interaktion und Kommunikation unter anwesenden Personen, sondern auch auf die Interaktion mit Dingen. Es wird mit Prototypen gearbeitet, die in der Richtung einer mehr oder minder klaren Vision und entlang der Kundenwünsche ständig verbessert werden.
VUCA im Freiwilligen-Management
Ein Management-Bereich, der seit jeher mehr mit Visionen und erzählendem Erklären als vorgesetzten Zielen und starren Prozessen arbeiten muss, ist der des Freiwilligen-Managements. Ohne die attraktive Erzählung einer Welt, wie sie sein sollte, kommt das Freiwilligen-Management nur schwer aus. Denn einerseits lässt sich bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt nicht so einfach einkaufen, andererseits geht es beim Freiwilligen-Management immer auch um Organisationsentwicklung und also auch um den Umgang mit Komplexität in mithin höchst widersprüchlichen Situationen.
Zu behaupten, Freiwilligen-Management sei per se ein agiles Unterfangen, wäre natürlich naiv. Und ein Blick in die einschlägige Literatur fördert ziemlich viele Faustregeln und Standard-Prozesse (Checklisten) zutage, die Motivation und Arbeitsfreude – wenn nicht verfügbar – dann doch mindestens erwartbar machen sollen. In der Praxis allerdings zeigt sich, dass Freiwilligen-Managerinnen und -Manager ihre Geschichten oft ziemlich gut erzählen und für wertebasiertes Handeln – sprich: Engagement und Ehrenamt – gut anschlussfähig machen.
Kommunikation im Allgemeinen sowie Konflikt- und Präsentationstrainings im Besonderen sind auf Tagungen und in den Curricula des Freiwilligen-Managements schon länger feste Bestandteile. Praktikerinnen und Praktikern ist der Umstand, dass es bei der Arbeit mit unentgeltlich Engagierten um Beziehungspflege, Anschlusskommunikation und Resonanz geht, sonnenklar. In anderen Management-Bereichen dagegen ist dieser Gedanke noch recht neu. Als seien Organisationen Maschinen mit Zahnrädern, die geschmiert werden müssen, liegt der Fokus hier oft auf Motivatoren und Hygienefaktoren (Frederick Herzberg), Incentives und Corporate Branding. Themen natürlich, die auch im Freiwilligen-Management eine Rolle spielen, hier oft allerdings nicht als Wahrheit letzter Schluss behandelt, sondern weitergedacht werden.
Wer sich also einmal anschauen will, wie Management in der VUCA-Welt aussehen könnte, sollte sich einmal mit der Leitung einer Freiwilligenagentur unterhalten. Sicher wird man dabei viele Faustregeln und Standard-Prozesse (wieder-)finden, kann aber eben auch entdecken, welche – untergeordnete – Rolle sie auch spielen können und worauf es in der VUCA-Welt vielleicht etwas mehr ankommt.