Blick ins Buch: "Nudge" — wie man kluge Entscheidungen anstößt

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So ganz genau kann ich nicht mehr nachvollziehen, wie ich darauf gekommen bin. Irgendwie hat mich das Buch von Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein aber interessiert. Auf eigentümliche Weise! Nach dem, was ich bislang über „Nudging“ gelesen hatte, war ich fest davon überzeugt, dass es in die Ecke der pseudo-wissenschaftlichen Manipulativtechniken gehört, in der auch Bücher zur Neuroliguistischen Programmierung (NLP) stehen. Kurz: Mir war das Anliegen von Thaler und Sunstein, ‚kluge Entscheidungen anzustoßen‘, äußerst suspekt. Genau das wird wohl der Grund gewesen sein, warum ich mir das Buch dann besorgt und mal reingeguckt habe.

Nudge

Was ein Nudge (engl. „to nudge“, dt. „sanft schupsen […] besonders mit den Ellenbogen“, S. 13) genau ist — oder besser was kein Nudge ist — kann ich auch nach aufmerksamer Lektüre des Buches nicht genau sagen. Thaler und Sunstein schreiben:

Unter Nudge verstehen wir … alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern (S. 15)

Nun: Es geht also um Verhaltensmanipulation. Genauer gesagt darum, irgendwie in die Entscheidungen von Menschen einzugreifen und damit ihr Verhalten in einer gewünschten Weise zu verändern. Verstanden! Die Figur des ‚Entscheidungsarchitekten‘ aber bleibt mysteriös. Sie scheint jene zu sein, die definiert, was gewünscht ist, bei ihrem Wirken aber insofern eingeschränkt wird, als sie keine der vorhandenen Optionen ausschließen oder wirtschaftliche Anreize zu stark verändern darf. Klingt nach Werbung und nach Marketing …
Worum geht es aber genau? Es geht um Quängelware im Supermarkt, Schockbilder auf Zigarettenpackungen und das Kleingedruckte in den AGBs; es geht um Probeabos bei denen man die Kündigungsfrist nicht verpassen darf und Fundraiser, die immer nach ein bisschen mehr fragen. Sunstein und Thaler bringen sogar die Umstellung von der Winter- auf die Sommerzeit als Beispiel:

Laut einer Umfragen halten die meisten Menschen sie [die Sommerzeit] für eine gute Idee, vor allem weil sie sich über die ‚zusätzliche‘ Stunde Tageslicht am Abend freuen. Dabei ist es an jedem Tag gleich lang hell — ob man die Uhren vorstellt oder nicht. Aber allein dadurch, dass wir die Stunden umbenennen und ‚6 Uhr‘ während der Sommerzeit als ‚7 Uhr‘ bezeichnen, wachen wir nun alle eine Stunde früher auf. Das ist ein Nudge! (S. 71)

Nudges — das wird in diesem Buch deutlich — sind heute allgegenwärtig! Ständig werden wir angestupst und von irgendwelchen Leuten in ‚gewünschte‘ Bahnen gelenkt. Die Frage bleibt: Wer ist der Entscheidungsarchitekt?

Entscheidungsarchitektur

Thaler und Sunstein unterscheiden die reallebenden Menschen („Humans“) von den „Econs“ — dem Ideal des homo oeconomicus (S. 30ff.). Während die Econs emotionslos und umfassend informiert ihre Entscheidungen fällen, haben Humans so ihre Schwächen: Sie entscheiden aus dem Bauch heraus (S. 38ff.), sind über die Maßen optimistisch und haben fürchterliche Angst vor Verlusten (S. 51ff.). Kurzum: Humans funktionieren nach eigenen Regeln. Wer diese Regeln kennt, verfügt über die notwendigen Werkzeuge.
Entscheidungsarchitekten nämlich entwerfen die Struktur, in der sich Menschen für bestimmte Handlungsoptionen entscheiden. Und mit dem Wissen darum, nach welchen Regeln Menschen ihre Entscheidungen fällen, können sie die Struktur so anlegen, dass das gewünschte Ergebnis dabei raus kommt.
Thaler und Sunstein (S. 118ff.) geben zahlreiche Tipps und Hinweise, worauf man bei der Entscheidungsarchitektur achten muss:

  • Man sollte in der Entscheidungsarchitektur stets den Weg des geringsten Widerstandes anlegen, um damit die Trägheit der Menschen zu nutzen (S. 123ff.).
  • Auch Fehler müssen unbedingt mit eingeplant und vermeiden werden, um so die Frustrationstoleranz der Menschen nicht zu stark zu strapazieren (S. 126ff.).
  • Authentisches Feeback ist wichtig, um den Menschen nach ihrer Entscheidung Selbstwirksamkeit zu suggerieren (S. 131f.).
  • Um Entscheidungen mit ungewissem Ausgang zu steuern, ist es klug, den Menschen einen Ausblick auf das zu erwartende Ergebnis zu geben (S. 132ff.).
  • Die Reduktion von Komplexität — z.B. bei Entscheidungen mit vielen unbekannten Variablen — bietet zahlreiche Möglichkeiten der Steuerung (S. 136ff.)
  • Und schließlich gilt es auch die bestehenden Anreize im Blick zu behalten (S. 140 ff.).

Libertärer Paternalismus

Nach all den Tipps und Tricks, wie menschliches Verhalten — theoretisch — zu manipulieren ist und den zahllosen Beispielen, wie es bereits konkret geschieht, bleibt ein ungutes Gefühl: Irgendwer — vielleicht der Auftraggeber des Entscheidungsarchitekten (?) — hat schließlich zu bestimmen, was klug, gut, gerecht, schön oder sonstwas ist, um Nudging überhaupt möglich zu machen. Mit der Frage, ob das okay ist, wechseln wir in das Fach der Ethik. Irgendwo müssen Thaler und Sunstein ja gute Gründe dafür haben, warum Nudging moralisch zulässig sein sollte.
Die Autoren bezeichnen sich selbst als „libertäre Paternalisten“ und verbinden die oben zitierte Definition des Nudgings damit: Es sollen keine Optionen ausgeschlossen oder zu starke wirtschaftliche Anreize gesetzt werden.

Um es mit den Worten von Milton Friedman zu sagen: Libertäre Paternalisten wollen, das die Leute ‚frei sind zu entscheiden‘. [… | Sie] wollen es den Menschen leicht machen, ihren eigenen Weg zu gehen; sie möchten niemanden daran hindern, von seinen Freiheitsrechten Gebrauch zu machen (S. 14).

Nichtsdestotrotz erachten sie es als legitim, „das Verhalten der Menschen zu beeinflussen, um ihr Leben länger, gesünder und besser zu machen“ (S. 14f.). Damit ist das ungute Gefühl leider noch nicht vom Tisch.
Erst ganz zum Schluss kommen Thaler und Sunstein darauf zurück und führen das „Prinzip der Öffentlichkeit“ ein (S. 319ff.). Intransparentes Nudging ist demnach nicht okay, wenn es die jeweils anderen Optionen vernebelt. Dem kleinen Kind und seinen Eltern werden an der Supermarktkasse bspw. die Alternativoptionen zu den dargeboten Süßigkeiten — vielleicht Äpfel und Möhren — in der akuten Quängel-Situation gar nicht offenkundig, obwohl sie natürlich irgendwo anders im Markt zu finden wären. Das ist ein nicht-okayer Nudge. Okayer dagegen ist es, Produkte, die man los werden will, auf Augenhöhe zu platzieren, wenn die Alternativen im selben Regal (unten drunter oder oben drüber) stehen.
Die Angelegenheit ist nicht einfach. Sicherlich ist es richtig, dass Entscheidungen immer in bestimmten Settings (Entscheidungsarchitekturen) getroffen werden und diese natürlich auch ‚designet‘ werden können. Vielleicht ist es auch richtig, dass diese Steuerungsmöglichkeit von den Auftraggebern der Entscheidungsarchitekten genutzt werden. Ethische Maßgaben, wo dabei Grenzen gesetzt werden müssen, sehe ich aber nicht — ganz zu schweigen natürlich von deren Durchsetzung.

Nudges im Ehrenamt

Auch im Ehrenamt gibt es Nudges. Und das sind nicht die okayen. Einmal in einem Verein angekommen, eingebunden und integriert werden Ehrenamtliche zuweilen in „altruistische Geiselhaft“ genommen und zu Engagement genötigt, zu dem sie sich anfangs gar nicht entschlossen hatten — natürlich zum Wohle der Gemeinschaft! Die Alternativoption ‚Aufhören‘ gibt es zwar und viele Ehrenamtliche nehmen sie auch war, doch verhält es sich dabei wie mit den Möhren an der Supermarktkasse: Den meisten liegt diese Allternative erst einmal nicht nahe.
Beim Nudging geht es um Verhaltensmanipulation. Das kann für das Ehrenamt durchaus sinnvoll eingesetzt werden. Dort z.B. wo es um die Werbung Ehrenamtlicher geht, geht es immer auch darum, die Einstellung ‚pro Ehrenamt‘ in eine Handlung ’sich informieren‘ und schließlich in Verhalten ’sich Engagieren‘ zu überführen. Entscheidungsarchitekten an das Problem dieser Überführung zu setzen, täte vielen Nonprofits gut. Die intransparenten Strukturen innerhalb der Community aktiver Ehrenamtlicher aber nicht auf ethische Grundsätze zu reflektieren, kann ziemlich nach hinten los gehen — z.B. in der Gestalt, dass sich Ehrenamtlich wegen ‚Überforderung‘ in Scharen aus dem ‚Dienst‘ zurückziehen.
tl;dr: Nudging happens! Eine brauchbare Ethik des Anstupsens fehlt.

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