Es ist wirklich schon eine Weile her, dass ich über digitale Veranstaltungen in der Corona-Pandemie schrieb. Damals, es war im Mai 2020, waren die ersten digitalen BarCamps, Stammtische und Hackathons gelaufen. Am Horizont erschienen digitale Großevents und die Videokonferenz wurde zur neuen Normalität der meisten von uns.
Zwischenzeitlich hat sich die Welt weitergedreht; in Lichtgeschwindigkeit möchte ich hinzufügen: Die Meeting-Dichte hat stark zugenommen – bei MS TEAMS um mehr als das Doppelte – und die persönlichen Netzwerke schnurren auf den Kreis der ‚üblichen Verdächtigen‘ zusammen (King / Kovács 2021). In dieser Zeit des „Rasenden Stillstands“ (Paul Virilio) sind attraktive Formate digitalen Zusammenkommens, Lernens und Arbeitens gefragter denn je. Doch wir haben ein Problem: „Zoom-Fatigue“ – eine um sich greifende Erschöpfung, die sicher nicht allein mit der Beschränkung auf Audiovisuelles zu erklären ist.
Der Wunsch und die Kraft zu sozialen Kontakten entsteht durch sozialen Kontakt. Und wo dieser Kontakt fehlt, nimmt erstaunlicherweise der Wunsch ab.
Hartmut Rosa im Gespräch mit Peter Unfried
Die Vollheit der Schnauze
Mein Eindruck ist, dass die „Vollheit der Schnauze“ (Sascha Lobo) aus einer Art Gefangensein in einem Käfig aus Standard-Tools resultiert. Das Zusammenspiel von E-Mail, Chat, Kalender und Video-Konferenz normt meine Arbeitstage derart, dass sich kaum einmal eine überraschende Begegnung ergibt. Kein Wunder! Denn dafür sind diese Tools auch nicht gemacht. Sie sind dafür da, die Effizienz ortsunabhängiger Zusammenarbeit zu erhöhen. Sie gehören zu dieser Art von Technik, die – per defalut – Produktivität verfügbar machen soll und dafür alles ausklammern muss, was nicht verfügbar ist: gute Beziehungen zum Beispiel.
Das heißt natürlich nicht, dass man über Standard-Tools wie Zoom, SLACK und Co keine Beziehungen pflegen kann. Das kann man sehr wohl! Jedes Tool lässt sich zweckentfremden und digitale Co-Kreation in der Projektarbeit liefert ein hervorragender Anlass dafür. Dass aber die No-Show-Rate bei digitalen Veranstaltungen in etwa dem Maße steigt, wie die Dichte wöchentlicher Meetings zunimmt, könnte doch in einem wachsenden Misstrauen ob der Effektivität dieser Tools für lockeres Socializing gründen. Es macht ja einen Unterschied, ob ich die Beziehungen zu den ‚üblichen Verdächtigen‘ auf Arbeit oder im Ehrenamt pflegen oder neue Leute kennenlernen möchte.
Die Zufälligkeit der Begegnungen
Eine der wesentlichen Beschränkungen von Standard-Tools hatte ich schon im Mai letzten Jahres benannt: Es ist unmöglich, mal mit jemandem ‚kurz beiseite‘ zu gehen. Entweder muss man sein Anliegen verschriftlichen, einen Termin ausmachen oder Funktionen wie Breakouts nutzen. Das rahmt die Sache natürlich anders als ein spontanes Vier-Augen-Gespräch zwischen Tür und Angel. Es nimmt dem Smalltalk die so wichtige Leichtigkeit. Und: Es entbehrt auch des Zufalls, aus dem sich so oft die spannendsten Gespräche entwickeln.
Diese Zufälligkeit der Begegnungen ist, denke ich, was die nächste Generation digitaler Veranstaltungen ausmacht. Veranstaltungen, die uns Wunsch und Kraft – kurz „Energie“ – zum Netzwerken geben. Events, nach denen wir ganz beseelt nach Hause gehen, weil wir als Teilnehmende nicht bloß auf’s Nicken und Klatschen reduziert wurden sondern mit ‚eigener Stimme‘ sprechen konnten und auch die Gelegenheit hatten, die Stimmen der anderen zu hören.
Die Virtualisierung der Veranstaltungen
Die nächste Generation digitaler Veranstaltungen muss also mehr sein als die bloße Fortsetzung digitalisierten Arbeitens. Virtualisierung, finde ich, ist hierfür ein passender Begriff, zu dem sich auch die Philosophie einige Gedanken gemacht hat. Der kanadische Philosoph Brian Massumi beispielsweise sieht im Virtuellen als Anwesenheit von Abwesendem stets die Möglichkeit der Emergenz von Neuem. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass technologisch auf die Konnektivität von Möglichkeiten – nicht bloß aktuell Bestehendem – fokussiert wird.
Viel zu oft wird das Virtuelle mit einer ‚Als-Ob-Realität‘ in Verbindung gebracht und „Virtual Reality“ als beliebige Spielerei abgetan. Virtualität und Realität aber sind keine Gegensätze. Einerseits sind die Erscheinungsformen des Virtuellen – Avatare, Objekte, Umgebungen, ja auch Texte und Bilder – von sehr realer Rechenpower abhängig, andererseits haben sie immer auch das Potential zu sehr realen Handlungen zu motivieren. (Man denke hier beispielsweise an die Diskussionen um Darstellung von Gewalt in Medien.)
Virtualisierung als Prozess wirft allerdings die Frage auf, wie wir von hier nach dort kommen? Wie kommen wir von der Verlängerung digitalen Arbeitens zum freien Spiel potentieller Relationen? Wie könnten die virtuellen Veranstaltungen der nächsten Generation aussehen? Und: Worauf wird es ganz praktisch dabei ankommen?
Die neue Generation digitaler Veranstaltungen
Ich habe in den letzten Monaten an einigen Veranstaltungen teilgenommen, bei denen meines Erachtens wichtige Aspekte dieser nächsten Generation virtueller Konferenzen durchschienen: Aus der Kategorie „VR“ war da zum einen das 3D BarCamp von Henning Behrens, die Avatar-Konferenz der DRK-Wohlfahrt und der 3D-Workshop der #VRExplorer (alles in TriCAT). Aus der Kategorie „2D“ waren da zum anderen der virtuelle Stammtisch von D64 in SpatialChat, der Markt der Möglichkeiten auf dem Mitteldeutschen Fundraisingtag in Wonder und der Elbstrand des Digital Social Summit 2021 in Gather sowie das DSEE-BarCamp „Engagiertes Land“ in Workadventure.
Selbstverständlich kam es bei diesen virtuellen Konferenzen nicht allein auf die Technik an. Da sich jedes Tool in jede Richtung zweckentfremden lässt, kommt es immer auch darauf an, was die Teilnehmenden daraus machen. Da die Technik dafür aber den Rahmen bietet, werde ich mich hier darauf beschränken, was – per default – auf virtuellen Konferenzen möglich ist.
Immersive Konferenzumgebung
Als immersive Umgebungen werden virtuelle Räume beschrieben, die die Nutzenden in ihren Bann ziehen. Hohe Immersion führt dazu, dass virtuelle Umgebungen als ‚real‘ empfunden werden. Der Effekt ist von Computerspielen bekannt. Erzeugt wird er nicht nur – und auch nicht zuerst – durch realitätsgetreue Simulation, sondern vielseitige Stimuli:
- Sanfte Übergänge – surfen statt klicken: Allen oben genannten Tools ist gemein, dass Medienbrüche vermieden werden. Kurz gesagt: Man geht vom einen zum anderen und klickt sich nicht durch. Die so entstehenden sanften Übergänge schaffen Zwischenzeiten mit neuen Möglichkeiten für Umwege und weitere Stimuli.
- Interaktion mit der Umgebung: Der 3D-Workshop der #VRExplorer beispielsweise war von der Interaktion mit der virtuellen Umgebung geprägt. Es gab eine Schnipsel-Jagt, bei der die Teilnehmenden versteckte Gegenstände finden sollten, und Gruppenarbeiten, bei denen sie Skulpturen zu bestimmten Themen bauten. Auf dem Elbstrand des Digital Social Summit konnte man Tanzen und Wege auf die Schiffe im Wasser entdecken.
- Räumliche Klangerfahrung: Der erste virtuelle Stammtisch von D64 im neuen Jahr bot mit mehr als 25 Teilnehmenden echtes Bar-Feeling in einem Raum auf SpatialChat. Wie auch TriCAT und Gather ermöglicht der Dienst ein Fadeout der Audioverbindungen, wenn sich die Teilnehmenden voneinander wegbewegen. Mit mehr als 20 Teilnehmenden in einem Raum entstand so eine Geräuschkulisse, die der in einer Bar sehr ähnlich war. Man konnte unauffällig Gesprächsfetzen auffangen und bei Interesse versuchen, sich in die Unterhaltung einzuklinken.
Performative Gemeinschaftlichkeit
Die performative Erzeugung von Gemeinschaft beschreibt – kurz gesagt – die Bildung von Gruppen und Communities entlang gemeinsamer Praktiken, Stile und Themen. Meme bieten anschauliche Beispiele dafür, wie das in den Sozialen Medien Tag für Tag geschieht. Virtuelle Konferenzen bilden das ab und machen diese Communities of Practise sicht- und beobachtbar.
- Erkennbarkeit von Gruppen: Beim Markt der Möglichkeiten des Mitteldeutschen Fundraisingtages wurden auf einem einfarbigen Hintergrund rechteckige Zonen markiert und mit den Themen beschriftet, die darin besprochen werden sollten. Die Teilnehmenden konnten also auf einen Blick sehen, wo sich gerade Grüppchen bildeten und wo gerade jemand ganz allein war. Ähnlich war das auch beim DSEE-BarCamp „Engagiertes Land“, bei dem die Zahl der Teilnehmenden in der Auftakt-Session aus der Vogelperspektive besonders deutlich wurde.
- Individuelles Erscheinungsbild: Beim BarCamp „Engagiertes Land“ hat sich das Orga- und Support-Team, also jene, die für Fragen aller Art zur Verfügung stehen wollten, darauf geeinigt, ihren Avataren blaue Hüte aufzusetzen. Damit waren sie für die Teilnehmenden und die Mitglieder der Gruppe schnell identifizierbar. Und auch Sebastian Ederle, der mit mir am Workshop der #VRExplorer teilnahm, markierte seinen Avatar mit den Farben von D3.
Die Virtualisierung als Prozess
Den 3D-Workshop der #VRExplorer habe ich schon im Mai letzten Jahres als Beispiel für virtuelle Konferenzen genannt. Seinerzeit hat mich Virtuelle Realität vor allem als spielerische Abwechslung gereizt. Ich war mir aber nicht sicher, ob die Zeit dafür schon reif war – ob sich die Menschen, von denen so viele noch ihre liebe Müh‘ mit Video-Konferenzen hatten, auf das freie Spiel der Avatare einlassen wollten. Was den Digitalisierungsgrad im Sozialen betraf schien mir die Lage einfach ein bisschen zu ernst.
Und obwohl mich meine damalige Kollegin Violetta Riedel mit der ersten Avatar-Konferenz des DRK im Juni 2020 eines Besseren belehrte, bleibe ich skeptisch. Die Avatar-Konferenz des DRK fand Ende 2020 zum zweiten Mal in der TriCAT statt. Die Umgebung ist sehr professionell gestaltet und bietet im Prinzip alle der genannten Möglichkeiten. Der Weg der Virtualisierung – von der Video-Konferenz zur 100% VR-Umgebung – aber braucht mehr als einen Schritt. Es geht schließlich nicht nur um das DRK sondern darum, einen neuen Standard zu entwickeln, in dem Networking per defalut angelegt ist.
Als Tipps zum Weiterlesen und -klicken sei hier das GitBook „Virtuelle Konferenzen“ und das Guidebook „Beyond Remote“ der #VRExplorer empfohlen. Wer sich außerdem über den digitalen DSEE-Campus und Workadventure schlau machen will, wird auf Devpost fündig.