Zivilgesellschaft in der 15-Minuten-Stadt

Z

Es schon ist ein paar Wochen her, dass ich irgendwo zwischen Berlin und Neustrelitz in der Regio saß und einen Artikel über die Auswirkungen der Corona-Pandemie in den USA las. Hängengeblieben bin ich an den Veränderungen im „housing“ us-amerikanischer Familien: Der Wohnungs- und Eigenheimmarkt in den USA ist schnelllebiger als bei uns in Europa. Trends und Gegentrends zeichnen sich dort entsprechend kontrastreicher ab, was ihre Beobachtung einfacher macht. Die Beobachtung in diesem Fall: Familien zieht es eher aus den großen Städten hinaus in die „suburbs“. Und weil das keine sonderlich neue Erkenntnis ist, habe ich mir den Link zum Artikel nicht behalten.

Die 15-Minuten-Stadt

Was mir seither aber im Hinterkopf herumspukt ist die „15-Minute-City“. Die wurde irgendwo in diesem Beitrag als eine Art gut ausgestattetes Quartier erwähnt, in dem alles – der Supermarkt, die Schule, der Kindergarten, Restaurants, Büros etc. – fußläufig in nicht mehr als 15 Minuten erreichbar ist. In Verbindung mit der Flucht aus der Stadt in die Vororte und aufs Land finde ich diese Idee recht spannend.

Bei der Recherche nach der 15-Minuten-Stadt bin ich bald auf Carlos Moreno von der Sorbonne Universität in Paris gestoßen (Portrait im Tagesspiegel). Moreno wird im Kontext smarter Städte allenthalben so zitiert:

There are six things that make an urbanite happy: dwelling in dignity, working in proper conditions, being able to gain provisions, wellbeing, education and leisure. To improve quality of life, you need to reduce the access radius for these functions.

Carlos Moreno

Ich bezweifle stark, dass sich ein gutes Leben auf sechs Dinge reduzieren lässt, die einfach nur schneller erreichbar sein müssen. Der moderne Mensch zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass er die ganze Welt und noch viel mehr für sich erreichbar machen will und eigentlich nie mit dem zufrieden scheint, was er bereits erreichen kann. Nichtsdestotrotz scheint es aktuell einige Veränderungen zu geben, die die 15-Minuten-Stadt in mehr greifbare Nähe rücken.

Unter dem Titel „The Path to the Post-Covid City“ zeigte Simon Kuper letztens in der Financial Times sechs Felder möglicher Veränderungen der Stadtgesellschaft:

  • Büro-Arbeit: Die jahrzehntelangen Widerstände gegen Home Office haben in der Corona-Pandemie dazu geführt, dass ein Großteil der Büroflächen in Großstädten leer stehen. Kurz: Es gibt zu viele Büros. Führungskräfte haben gelernt, dass Anwesenheit und Produktivität nicht unbedingt korrelieren und die allermeisten Wissensarbeiter haben sich inzwischen auf flexibles Arbeiten eingestellt. Im Microsoft Work Trend Index geben 73 Prozent der Angestellten an, auch weiterhin remote arbeiten zu wollen. Und 66 Prozent der Führungskräfte denken über eine entsprechende Umgestaltung der Büroflächen nach.
  • Nachbarschaft: Die Strukturierung der Städte durch Wohnquartiere und Büro-Distrikte verändert sich. Der innerstädtische Verkehr mit Bus, Bahn oder PKW nimmt ab. Weniger Menschen pilgern täglich in die Glastürme der Konzertzentralen und arbeiten stattdessen die meiste Zeit zu Hause oder einem Co-Working-Space in der Nachbarschaft. Neben kürzeren Wegen (höchstens 15 Minuten zu Fuß), mit denen die Luftverschmutzung deutlich reduziert wird, verdichten sich damit auch nachbarschaftliche Netzwerke, was gegenseitiges Vertrauen und Sicherheitsempfinden in der Öffentlichkeit merklich erhöht.
  • Mobilität: Mit dem Bedeutungsgewinn des näheren Umfeldes und mit kürzen Wegstrecken wird der Umstieg vom Auto aufs Fahrrad oder auf den eScooter frei. Wer es sich leisten will, kann weiterhin ein Auto unterhalten. Der stadtgesellschaftliche Druck, die Parklücken für nachbarschaftliche Nutzung frei zu machen, wird aber wachsen. Parkplätze werden teurer, Carsharing attraktiver! Und: Mit dem (teils subventionierten) Siegeszug des eBikes und dem Erhalt der in der Corona-Pandemie weltweit entstandenen Popup-Fahrradwegen wird man auch an den weiteren Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ein Fragezeichen machen.
  • Einzelhandel: Die Wiederbelebung des lokalen Einzelhandels wird nach der Corona-Pandemie wohl eine der größten Herausforderungen. Einerseits, weil Teile des Einzelhandels trotz Milliardenhilfen die Krise nicht überstehen. Andererseits, weil die Kunden trotz schön gemachter Kauf-Lokal-Kampagnen die größere Auswahl beim mittlerweile gewohnte Online-Shopping nicht missen möchten. Es liegt nahe, dass sich Einkaufsstraßen zu hybriden Bummelgegenden weiterentwickeln, in denen geguckt, probiert und entdeckt nicht aber unbedingt gekauft wird.
  • Wohnungsmarkt: Für leergezogene Büroflächen und verwaiste Parkhäuser gibt es zwei Möglichkeiten: Abriss oder Umnutzung. Der Abriss freilich ist teuer, die Umnutzung dagegen etwas phantasiebedürftig. Doch ist es durchaus denkbar, dass aus vorwiegend quadratisch-praktisch gebauten Büros bezahlbarer Wohnraum wird und in Parkhäuser Sportflächen, Warenlager und – ganz oben – Dachgärten einziehen.
  • Urbane Gärten: Die Nutzung von Dächern – vor allem den vorwiegend flachen von Büro-Gebäuden – als urbane Gärten ist in mehrerlei Hinsicht sinnvoll: Zum einen sorgen Pflanzen für bessere Luft und ein besseres Klima in den Häuserschluchten der Städte. In Anbetracht der klimawandelbedingt häufiger werdenden Hitzewellen ist das wohl eine sehr sinnvolle Sache. Zum anderen können urbane Gärten als eine Art Revival der alten Schrebergärten einen Teil zur Lebensmittelversorgung der Stadtbevölkerung beitragen.

Die von Kuper skizzierten Veränderungen schrammen knapp vorbei an der 15-Minuten-Stadt Morenos. Zur Erinnerung: Arbeit, Gesundheit, Bildung, Einkaufen, Kultur und Wohnen sind die Dinge, die für ein gutes Leben reichen sollen. Was fehlt?

Die neuen Dritten Orte

Was Simon Kuper in seiner Darstellung fast vollständig außen vor lässt, sind die vor allem in großen Städten vielfältigen Kultur- und Freizeitangebote. Neben Theater und Museen, Clubs und Kleinkunstbühnen fungieren vor allem Bahnhöfe, Parks und Bibliotheken als „Dritte Orte“, die sicher auch in der Stadtgesellschaft der Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Denn die Menschen, nicht die Häuser machen die Stadt.

Perikles

Und nicht nur in der großen Stadt! Mit dem „Megatrend“ zu Konnektivität, zur hybriden Verquickung von Groß und Klein, Hier und Dort, lokalem Treiben und globalem Wandel können auch die Dritten Orte in kleinen Städten und auf dem Land zu Knotenpunkten der Teilhabe in einer zunehmend vernetzten Welt werden.

Neu an diesen Dritten Orten übrigens wird nicht der brauchbare Breitbandanschluss. Internet-Cafés sind nicht neu – auch nicht auf dem Land! Neu wird vielmehr sein, dass diese Orte aktiv miteinander verbunden werden. Neu werden also nicht Kabel und Hardware sein, sondern die Programme und Angebote, die neuen Nutzen stiften – zum Beispiel in dem globale Wissens- und Netzwerkressourcen zur Bearbeitung lokaler Herausforderungen zugänglich gemacht werden.

Dieser Nutzen kann und wird nicht exklusiv der Zivilgesellschaft vorbehalten sein. Es macht schlicht keinen Sinn, überall im Land Häuser für die engagierte Zivilgesellschaft auszustatten. Vielmehr wird es auf die kluge Koordination der Stakeholder vor Ort ankommen. Lokale oder regionale Genossenschaften könnten beispielsweise Co-Working-Spaces mit entsprechend ausgestatteten Veranstaltungsräumen betreiben und über solidarische Geschäftsmodelle finanzieren. Die Nutzung könnte durchaus staatlich subventioniert werden – allein schon, um zu vermeiden, dass sich jedes Vereinsheim anschickt, selbst so ein Ort zu werden.

Die große Herausforderung

Würde die 15-Minuten-Stadt nach Corona Realität, sie wäre näher den je am Modell der „Caring Community“, einer Zivilgesellschaft der kleinen Kreise. In städtischen und ländlichen Nachbarschaften, in denen die Menschen einander kennen und vertrauen, gedeihen Engagement und Ehrenamt in der Regel ganz gut. Die große Herausforderung wird dabei sein, die Offenheit der kleinen Kreise zu fördern und zu bewahren.

Wir haben gesehen: Die Voraussetzungen für die 15-Minuten-Stadt sind in der Corona-Pandemie durchaus näher gerückt. Wir haben aber auch gesehen, was mit persönlichen Netzwerken – dem Kit, der die Zivilgesellschaft im Innersten zusammenhält – passiert, wenn der Kontakt zum Fremden, Neuen und Anderen verloren geht: „turtling up“ (sich einigeln) ist hier das Stichwort.

Over the long term, turtling up and a dearth of opportunities to interact with strangers are leading to network shrinkage.

Marissa King & Balázs Kovács

In Gefahr gerät dadurch nicht bloß die Innovationsfähigkeit. In sich einigelnden Gemeinschaften, in Communities mit viel bonding capital“, gedeiht unziviles Engagement, Fremdenfeindlichkeit und Mauschelei. Dort, wo sich der gelebte Kontakt zum Fremden auf das allernötigste beschränkt, fallen Populismus und Verschwörungstheorien auf fruchtbaren Boden. Dem eine lebendige, inklusive Demokratie gegenüber zu stellen, ist eine wichtige Aufgabe der gesamten Zivilgesellschaft, für die unter dem Label „Open Social Innovation“ in den letzten Monaten auch praktische Learnings gesammelt wurden.

Beitrag anhören

kommentieren

Newsletter – Lesenswertes dann und wann per E-Mail