Engagement und Ehrenamt (neu) gestalten?!

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Vor ein paar Tagen war ich zu Gast bei einer Tagung der Diakonie in Aachen. Gebeten wurde ich, über die Veränderungen in Engagement und Ehrenamt während der Corona-Pandemie und vor allem über Möglichkeiten der (Neu-) Gestaltung des Engagements nach Corona zu sprechen. Spannende Fragen zu einer interessanten Zeit, finde ich: Wir können derzeit nur hoffen, dass der Krisenzustand der letzten Monate allmählich in eine neue Normalität übergeht, in dem das Corona-Virus eben auch dazu gehört; dass der zweite Corona-Winter nicht all zu hart und die vierte Welle nicht all zu mächtig ausfallen wird. In einer Zeit auch, in der Dänemark die Corona-Pandemie für beendet erklärt und es dank Impfung und Schnelltests wieder möglich wird, zu reisen und zu feiern, stellt sich die Frage, wie es wieder los, wie es weiter gehen kann im wohl organisierten Engagement und Ehrenamt der Verbandswelt.

Ich will hier kurz meine Herangehensweise skizzieren und eine Idee ergänzen, wie die Theorie in die Praxis zivilgesellschaftlicher Organisationen übersetzt werden kann. Auch das ist noch viel zu viel Theorie, aber vielleicht ein Anfang.

Die Corona-Pandemie als Turbo-Digitalisierung

Die Corona-Pandemie verbinde ich mit einer Art Turbo-Digitalisierung, die viele Menschen und Organisationen bis an die Schmerzgrenzen belastet. Und wie (fast) immer, wenn ich in den letzten Jahren über Digitalisierung sprach, habe ich auch in Aachen mein Verständnis dieses Phänomens kurz erläutert:

  • Digitalisierung ist für mich zunächst ein Wort mit dem wir um die Jahre 2015/16 einen Wandlungsschub zu greifen bekommen haben, der unsere Gesellschaft seit nunmehr mindestens zwei Dekaden grundlegend verändert – ein Diskursbegriff übrigens, der in den Wahlprogrammen der letzten Jahre sehr oft vorkam, ohne hier jemals irgendwie erläutert worden zu sein. Gemeint ist natürlich das Internet und besonders die Verbreitung der Sozialen Medien, Smartphones, Wearables und all den damit verbundenen Entwicklung in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.
  • Diesen Wandlungsschub beschrieb Hartmut Rosa als Beschleunigung moderner Gesellschaften – einem Phänomen, dass seine Ursachen nicht nur im Höher, Schneller, Weiter des industriellen Wirtschaftens hat, sondern auch im menschlichen Drang nach Welterreichung begründet ist. Kurz gesagt: Wir Menschen wollen Zeitsparmaschinen wie zum Beispiel Smartphones haben, um uns die Welt erreichbar zu machen, die Wirtschaft befeuert diesen Bedarf durch immer neue Smartphones und weil jetzt alle alle erreichen können und es auch versuchen, fühlen wir ob des Information Overload ziemlich überfordert.
  • Die Konsequenz aus der Beschleunigung ist die Entfremdung: Wenn wir Menschen versuchen, die Welt verfügbar zu machen, zieht sie sich meist zurück – sie wird taub, stumm und rau. Je mehr Informationen wir zum Beispiel über das Internet bekommen, um einen fundierten Diskurs führen zu können, desto mehr grassieren Fake News und Hate Speech. Bei immer mehr Menschen zeitigt diese Entfremdung Depressionserkrankungen, Burn Out und Erschöpfung – der Antithese zum Höher, Schneller, Weiter unserer Zeit.

Auch wenn der (lineare) Schluss von Beschleunigung auf Entfremdung ein bisschen Old School anmutet, finde ich es wichtig, zu zeigen, wohin uns diese Entwicklung als Individuen und als Gesellschaft führen können. Meine Botschaft ist hier eigentlich immer gleich: Wir können uns der Digitalisierung nicht entziehen, weil das (Selbst-) Exklusion bedeuten würde. Wir sollten aber achtsam sein und nicht jedem Bimmeln hinterherrennen.

Ein Zielbild für die (neue) Bürgergesellschaft

Bei mahnenden Worten und gemalten Teufeln will ich es aber nicht bewenden lassen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es ein positives Zielbild braucht. Etwas, auf das sich gemeinsam hinwirken lässt, weil es ganz allgemein gut und schön und wünschbar ist.

Nach seinen Diagnosen zur Beschleunigung der modernen Gesellschaft hat sich Hartmut Rosa hierzu Gedanken gemacht. Als einen möglichen Ausweg aus der Beschleunigung beschreibt er die Resonanz – eine Antwortbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren, anregen und verändern. Resonanz ist nicht bloß Echo oder irgendein wohliges Gefühl der Geborgenheit im Kreise Gleichgesinnter. Es ist ein Beziehungsmodus, der für die Frage nach der Zukunft der Bürgergesellschaft besonders dort spannend wird, wo es um die Beziehungen zwischen Menschen einer demokratischen Bürgergesellschaft geht.

Ganz im Sinne der Habermas- und Rawls-Kritik von Nancy Love im Buch „Musical Democracy“ beschreibt Rosa die Resonanzachse der Bürgergesellschaft, als einen neuen Modus der Demokratie:

Demokratie [im Kleinen wie im Großen] bezeichnet dabei nicht mehr nur und nicht in ersterer Linie das Aushandeln und Verhandeln von (Rechts-) Ansprüchen und Interessenkonflikten, sondern meint einen anhaltenden Prozess der Sensibilisierung für die Vielfalt der Stimmen im Sinne von Perspektiven, Existenzweisen und Weltbeziehungen.

(Rosa 2017: 368)

Dieses Zielbild einer inklusiven Bürgergesellschaft beschreibt lang nicht den Zustand absoluter Inklusion, in dem alle an allem teilhaben können. Es geht um die Sensibilität für die Vielfalt von Perspektiven, Existenzweisen und Weltbeziehungen, die zumindest im Ansatz auch von Johanna Mair und Thomas Gegenhuber für die Weiterentwicklung von Open-Social-Innovation-Prozessen angemahnt wird, die seit letztem Jahr in einem beachtlichen Maßstab erprobt wurden:

… openness and participation do not automatically make social innovation more inclusive. Bias inheres in design choices and decisions on how to structure processes and events that consequently reproduce or create new sources of exclusion. Organizers need to make sure they include feedback loops in their process and can quickly address early signs of exclusion.

Mair / Gegenhuber 2021

Ein Parlament der Funktionen

Wie aber können diese Feedback-Loops so implementiert werden, dass sie funktionieren, dass die Bewertung und Verarbeitung der Rückmeldung nicht allein den den Wertesystemen, der Sozialisation und den vermeintlich unüberwindlichen Rahmenbedingen (aka Alternativlosigkeiten) der Organisationen, der Freiwilligen-Managerinnen und -Manager überlassen bleiben? Oder anders: Wie lässt sich die Organisation freiwilligen Engagements gemeinsam mit den Engagierten gestalten?

Es kann für solche Fragen keine einfachen Antworten geben. Deshalb zielt mein Kredo hier eigentlich immer auf die co-kreative Gestaltung der Rahmenbedingungen in einem neuen Modus der Demokratie. Freiwilligen-Management ist dabei kein Top-Down-Prozess der Ressourcenverwaltung, sondern feinsinnige Moderation und sensible Organisationentwicklung, die entlang der Bedarfe und Wünsche aller Beteiligten die schönste der möglichen Zukünfte (Otto C. Scharmer) ansteuert.

Ein hilfreiches, schon gut entwickeltes Werkzeug dafür ist der funktionale Ansatz:

aus: Psychologie der Freiwilligenarbeit

Hilfreich ist der funktionale Ansatz einerseits, weil er hilft, normative Setzungen zu umschiffen. Er stellt nicht die guten, intrinsisch motivierten den problematischen, extrinsisch motivierten Engagierten, die Egoisten nicht den Altruisten gegenüber, sondern fragt schlicht danach, welche psychologischen Funktionen die Tätigkeit für die jeweils handelnde Person erfüllt.

Der funktionale Ansatz ist andererseits hilfreich, weil man Engagierte damit nach Funktionen clustern und so unterschiedliche Perspektiven gezielt erfragen kann. Ein solches Parlament der Funktionen (Armin Nassehi) kann insbesondere dort, wo es um Organisationsentwicklungsprozesse geht, bei denen nicht nur eine einzelne Gruppe sondern – wie es beispielsweise bei IT-Projekten der Fall ist – die gesamte Organisation betroffen ist, ein wertvoller Beitrag zur Steuerung der Prozesse sein: Ganz im Sinne der Sensibilisierung für die Vielfalt der Stimmen kann so Feedback zur Wirkung bestimmter Maßnahmen eingeholt und in deren Weiterentwicklung einbezogen werden.

Ich spreche hier nicht von Arbeitsgruppen, die Leitbilder entwickeln, die später sowieso ignoriert werden. Ich meine auch keine Steuerungsgruppen, die über Wohl und Weh von Veränderungsprozessen entscheiden. Ich stelle mir eher Panel-Befragungen zu konkreten Ideen vor, die die Sensibilität für die Kosten steigern, die verschiedene Funktionssysteme füreinander produzieren. Der Notwendigkeit, irgendeine Neuerung trotzdem einzuführen, steht das keinesfalls entgegen, es macht die Reaktionen des organisationalen Immunsystems aber zumindest erwartbar.

Zum Weiterlesen:

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