Aufmerksamen Leserinnen und Lesern meines Blogs wird es nicht entgangen sein: Schon seit einiger Zeit spüre ich der Intuition eines Parlaments der Funktionen von Armin Nassehi nach. Bislang schweiften die Gedanken vor allem in Richtung Anerkennung und Wertschätzung – in Richtung Zuhören und Ko-Kreation des Miteinanders.
Also: Wie wäre es, könnten wir einander wirklich zuhören? Nicht nur im Versuch verkrampfen, die anderen zu verstehen; nicht nur nach Lücken und Widersprüchen fahnden, um das bessere Argument formulieren zu können; und auch nicht nur nach gemeinsamen Nennern und vorläufigen Kompromissen suchen, um den lieben Frieden zu bewahren. Sollten wir die alten Lager (links und rechts, konservativ und progressiv etc.) dafür über Bord werfen? Sie taugen ohnehin kaum noch, unsere Gesellschaft adäquat zu beschreiben.
Schauen wir zurück auf die letzte Bundestagswahl wird das deutlich: Die Wählerschaft der Ampel-Koalitionäre bestand nach Schätzungen der infratest dimap nicht mal zur Hälfte aus Stammwählern. Allein zur SPD sind 2 Millionen Unions-Wähler ‚übergelaufen‘ – von der AfD kamen etwa 0,5 Mio.
Ein Parlament der Funktionen
In seinem Buch über die „Letzte Stunde der Wahrheit“ geht Armin Nassehi (2015) der Frage nach, warum die alten Lager keine Alternative mehr sind. Und: Warum wir unsere Gesellschaft ganz anderes beschreiben müssen. Im letzten Kapitel zu „Übersetzungskonflikten“ macht er einen interessanten Vorschlag, um den parlamentarischen Betrieb zu ergänzen:
Vielleicht muss es parlamentsähnliche Formen geben, in denen die unterschiedlichen Logiken und Funktionen aufeinandertreffen und letztlich quer zu den üblichen Differenzen eine Übersetzungsarbeit leisten, in der man nicht auf Verständigung und Konsens hoffen kann, aber wenigstens darauf, die Differenzen, um die es geht, angemessen zu bearbeiten.
Armin Nassehi 2015, S. 289
Nassehis Intuition eines Parlaments der Funktionen könnte eine Art Senat oder dritte Kammer sein. Ein Ort wo nicht das Einende oder Trennende, sondern das ‚Dazwischen‘ sichtbar wird: „… die Differenzen, um die es geht.“ Um versuchsweise beobachten zu können, was passiert, wenn unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen, will Nassehi hier nicht etwa die alten Lager, Parteien und Fraktionen aufeinander loslassen. Vielmehr sollten es Bürgerinnen und Bürger sein, die sich aufgrund ihrer verschiedenen Problemlösungskompetenzen für gesellschaftliche Probleme unterscheiden – Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel in verantwortlichen Positionen verschiedener gesellschaftlicher Funktionssysteme (z.B. Wirtschaft, Wissenschaft und Politik).
In einer solchen Arena würde allein durch die notwendige Übersetzungsleistung in immer eigene Funktionslogiken ein „rewriting“ der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung betrieben (ebd. S. 267ff.). Diese Neuformulierungen würden zunächst wohl vor allem für punktuelle Verständigung sorgen. Sie könnten darüber hinaus aber auch zu einem neuen Selbstbild der Gesellschaft führen. Einem Bildnis, das zwischen den Stühlen steht.
Im Zen-Mode zwischen Stühlen
Mit dem Raum zwischen den verschiedenen Positionen setzen sich Markus Gabriel und Gert Scobel (2021) auseinander. Im Dialog über eine „Philosophie der radikalen Mitte“ gehen sie der Frage nach, wie wir in einer komplexen Welt und auf der Grundlage begrenzter Erkenntnis gute Entscheidungen treffen können. Im Kapitel zu „An-Archie“, in dem es um vieles geht, was der Einzelne nicht wissen oder beeinflussen kann, diskutieren sie auch die Rolle von Weisen:
In einer Expertenrunde liegt die Wahrheit zwischen den Stühlen und nicht auf den Stühlen, und wer sie dort erkennt ist ein Weiser [– jemand, der] sich in aller Gelassenheit zwischen die Stühle [setzt], selbst wenn diese Situation prekär ist.
Markus Gabriel & Gert Scobel 2021, S. 242
Was den Weisen ausmacht, ist also nicht nur der Mut, sich selbst in prekäre Situationen zu begeben; nicht nur der Schneid, in einer Expertenrunde zuzugeben, keine Ahnung zu haben. Es ist auch die Erkenntnisfähigkeit, die den Weisen ausmacht. Nämlich „die Wahrnehmung der Wirklichkeit in ihrer ganzen Vielfalt ohne dualistische Unterscheidungen, ohne begriffliche Interpretationen“ (S. 246).
Wieder rückt die Beobachtung, die Beschreibung dessen was ist, in den Fokus. Und die Einsicht, dass wir nicht – oder zumindest nicht ohne Weiteres – neutral beobachten können. Es bedarf schon eines echten Zen-Meisters wie Hongzhi Zhengjue, auf den sich Gabriel und Scobel beziehen, um die Vielfalt der Welt auch nur in Ansätzen wahrnehmen zu können:
Du musst alle inneren Tendenzen, aus denen du offensichtliche Gewohnheit gemacht hast, reinigen, abschaben, abschleifen und wegfegen.
Hongzhi Zhengjue
Ein Weg zur Resonanz-Demokratie
Ein Parlament der Funktionen halte es einerseits für eine sehr sinnvolle Ergänzung des parlamentarischen Betriebs; auch auf dem Weg zu einer „Resonanz-Demokratie“:
Demokratie [im Großen wie im Kleinen] bezeichnet dabei nicht mehr nur und nicht in erster Linie das Aushandeln und Verhandeln von (Rechts-) Ansprüchen und Interessenkonflikten, sondern meint einen anhaltenden Prozess der Sensibilisierung für die Vielfalt der Stimmen im Sinne von Perspektiven, Existenzweisen und Weltbeziehungen.
Hartmut Rosa 2017: 368
Ich glaube andererseits, dass die Wahrnehmung des ‚Dazwischen‘ auch bei der Organisation von (offenen) Innovationsprozessen hilfreich ist. Zumindest was Feedbackloops in solchen Prozessen betrifft, täte Differenzierung sicher gut. In innovierende Organisationen und Netzwerke aber einen (zusätzlichen) ‚Senat‘ einzuführen, erscheint mir wenig hilfreich – zumindest wenn ich es mir als um ein Gremium oder eine Arbeitsgruppe vorstelle.
Meine Überlegungen zu einem praktisch handhabbaren Ansatz gehen derzeit in die Richtung einer Art Panel-Befragung. Ein Panel, in dem die Teilnehmende mit validen Befragungsinstrumenten unterschiedlichen Funktionslogiken zuordnet werden. Auf der Grundlage dieser Cluster ließen sich unterschiedliche Sichtweisen auf aktuelle Fragestellungen, Ideen und Lösungsansätze sammeln und gegenüberstellen. Im besten Falle ließe sich so beispielsweise ein Eindruck davon gewinnen, welche Freuden oder Schmerzen die jeweils angesprochenen Themen in den unterschiedlichen Clustern auslösen.
Das ist noch nicht allzu viel! Zumal man bei Panel-Befragungen eher an Statistik als qualitatives Feedback denkt. Eine reine Panel-Befragung macht außerdem noch keinen Dialog zwischen den Befragten möglich. Und es ergeben sich auch Schwierigkeiten beim Design und bei der Auswertung der Befragung. Aber es ist ein Anfang; eine Grundlage, auf der man weiter daran arbeiten kann, sich bewusst zwischen die Stühle setzen, und zu lernen einander wirklich zuzuhören.
Quellen Gabriel, Markus / Scobel, Gert (2021): Zwischen Gut und Böse. Philosophie der radikalen Mitte. Hamburg: Edition Körber. Nassehi, Armin (2015): Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden. Hamburg: Murmann Publishers. Rosa, Hartmut (2017): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen. 5. Auflage. Berlin: Suhrkamp.