Komplexität surfen – von großen Strömen und kleinen Chancen

K

Neue Führung: Was soll das sein? Das Netz ist voll mit Wohlfühl-Buzzwords für neue Führungskräfte. Ein Wort feiert besondere Inflation: „Komplexität“ – die hashtaggewordene Ausrede für’s Nichtverstehen. Die dazugehörige Forderung: „Komplexität surfen“ – eine Einladung zu selbstsicherem Auftreten bei vollständiger Ahnungslosigkeit oder doch mehr?

Die Gedanken ziehen vorbei

Montags stehe ich meist ein bisschen vor meiner Zeit auf. Um 6 Uhr klingelt der Wecker, gegen 7:30 Uhr fährt der Zug ab Südkreuz nach Neustrelitz. In der Regel erwachen bei mir die Lebensgeister in etwa auf Höhe Oranienburg. So saß ich also auch am vergangenen Montag wieder etwas tranig im Zug. Und während Berlin am Fenster vorbeizog, apportierte der RSS-Reader einen Blog-Beitrag von Sabine Depew. Pling! Es ging um die (recht suggestive) Frage, warum Organisationen so viel mehr sind als ihre Strukturen.

Organisationen, so Sabine, haben zwar Strukturen, werden von diesen aber nicht in dem Maße geprägt, wie es die Menschen tun, die in ihnen arbeiten. Menschen, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit zur Vernetzung innerhalb und außerhalb der Organisation beitragen.

Mit dem Gang der Argumentation bin ich nicht so recht einverstanden. Mit dem Schluss daraus aber schon:

Wofür wir als Unternehmen, als Organisation, stehen, wird in den Menschen deutlich.

Klingt nach Perikles‘ „Menschen, nicht die Häuser machen die Stadt“. Mit einem wesentlichen Unterschied: Organisationen können sich die Menschen aussuchen, die sie ‚bewohnen‘. Und da sie die Zusammensetzung ihrer Mitgliederschaft aktiv beeinflussen können, zähle ich Themen wie Recruiting, Personalentwicklung und Mitarbeiterbindung zur Strukturseite der Organisation.

Wie dem auch sei! Es stimmt, dass die Menschen, nicht die Strukturen, die Organisation ausmachen. Zeig mir, wen du einstellst, (be-)förderst oder loswerden willst und ich sage dir, für was dein Unternehmen steht. Das Problem daran: Wer da eingestellt, be- oder gefördert und rausgenudget wird, kann genauso wenig am grünen Tisch aufgemalt werden, wie die Kommunikationswege oder die Projektschwerpunkte in einer Organisation.

Und eben hierauf, glaube ich, wollte Sabine hinaus: Strategiepapiere mögen in eine Richtung zeigen; einen Weg vorzeichnen. Die murky waters aber zu befahren ist nochmal eine ganz andere Sache. Hierfür braucht es, schreibt Sabine, „Steuermänner und -frauen“.

Die Komplexität surfen

Der Vergleich von Organisationen und Märkten – in der Sozialen Arbeit vielleicht auch „Feldern“ – mit mehr oder minder rauer See wird oft bemüht: Die murky waters von eben habe ich mir aus Debora Meyersons „Rocking the Boat“ ausgeliehen, Ausdrücke wie „Industrie-Kapitäne“, „Tanker“ und „Schnellboote“ kennen wir sicher alle noch und neuerdings heißt es, man möge die „Komplexität surfen“.

Das Bild von der See verfängt scheinbar. Und es inspiriert auch zu anderen Analogien. Analogien zum Beispiel zum Jazz:

Jazzer surfen immer am Rande des Chaos. Sie müssen sich auf ein turbulentes Umfeld einschwingen, zuhören, Ideen aufgreifen und spielerisch weiterentwickeln. Jazz ist Kreativität, Kommunikation und Teamplay auf höchstem Niveau.

flowskills.com

Zu diesem Zitat hatte ich schon vor einiger Zeit drüben bei Twitter ein kleines Brainstorming angezettelt. Herausgekommen ist für mich, dass sowohl Jazzer als auch Surferinnen in diesen Bildern komplett überhöht werden. Nur weil kaum jemand – mich eingeschlossen – versteht, was Surfer auf ihren Brettern und eine Free-Jazz-Combo zusammenhält, heißt das nicht, dass diese Leute zaubern können.

Eine gute Freundin, ihres Zeichens studierte Jazz-Sängerin, hatte mir einmal zu erklären versucht, wie das im Jazz funktioniert: Ja, der Lead wechselt – aber nicht ohne jede Struktur. Bestimmte Tonarten markieren den Übergang von einem Lead zum anderen. Sie erkennen zu können, braucht viel Erfahrung, sie im richtigen Moment zu spielen viel Übung und wer den Lead dann jeweils übernimmt, folgt noch mal ganz eigenen Regeln.

Alles in Allem scheint mir der Jazz wie das Surfen vom Maß des eingespielten Miteinanders abzuhängen. Die Kunst besteht dabei darin, sein Instrument virtuos zu beherrschen und sich von den anderen beim Spiel berühren zu lassen. Das eigentlich Zauberhafte daran, ist das Spiel selbst. Die Grundlage aber – die Dynamik der Strukturen lesen zu können – ist nicht mehr als Übung und Erfahrung im Miteinander.

Große Ströme und kleine Chancen

Es sieht so aus, als zeichnen sich Sabines Steuermänner und -frauen neben der Fähigkeit zum virtuosen Einsatz ihrer Instrumente und Werkzeuge vor allem dadurch aus, die Dynamik der Strukturen lesen und entsprechend (re-)agieren zu können. Es scheint mir vor allem darum zu gehen, scharfe Brüche vermeiden und den größeren Strömungen innerhalb und außerhalb der Organisation folgen zu können.

Weg vom Behördendenken hin zum dynamischen Systemverhalten, dessen lebendige Knotenpunkte neue Chancen für Fokussierung, Innovationen & Weiterentwicklung bieten.

Mit dem Strom schwimmen? Klingt opportunistisch! Zoomt man aber auf die Ebene der „Fuzzy Logic“ wird klar, wie aussichtslos es mithin ist, gegen den Strom zu schwimmen. Mit „Fuzzy Logic“ beschreibt Sabine die von großer Tiefenschärfe bereinigten Muster der Systemlogik – ein Bild, dass mich an Wetterkarten wie zum Beispiel earth.nullschool.net denken lässt.

Würden wir aber nur mit dem Strom schwimmen, wäre das mit der Innovation wohl ein noch zäheres Geschäft. Surften wir alle einfach nur die großen Ströme, wären die Irritationen viel zu schwach, als dass sie zu echter Veränderung anregen könnten. Wir würden dann und wann ein Projekt machen oder ein Programm auflegen, um dieses oder jenes Thema ‚abzuarbeiten‘. Und wir würden dabei hübsch alles integrieren. Integration ist aber noch keine Veränderung!

Manouchehr Shamsrizi hatte das Mitte Februar in einem Social Talk auf Twitter ganz gut auf den Punkt gebracht: Es rege ihn auf, dass stets versucht wird, neue in bestehende Denkmodelle zu integrieren. Man errichte so eher mentale Bollwerke gegen Innovationen als dass man sie fördere. Der alltagssprachliche Marker dafür dürfte in etwa so klingen: „Ja, das war schon immer so …“

Was also ebenso dazu gehört, wie die Fähigkeit mit dem großen Strom zu schwimmen, ist die Entschlossenheit, alle Chancen zu nutzen, die sich bieten. Christian Seelos und Johanna Mair sprechen in diesem Zusammenhang von der „Ausbeutung“ neuer Ideen. Es geht hier nicht nur darum „die Guten in Töpfchen, die Schlechten in Kröpfchen“ zu stecken. Es geht um ernst gemeintes Verstehenwollen, darum sich berühren, in Bewegung setzen und verändern zu lassen. Und darum, gemeinsame Perspektiven für Neues zu formulieren.

Quellen:

Kühl, Stefan (2011): Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
Meyerson, Debora E. (2008): Rocking the Boat. How to Effect Change Without Making Trouble. Harvard: Business Review Press. 
Rosa, Hartmut (2017): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen. Berlin: Suhrkamp.
Seelos, Christian / Mair, Johanna (2017): Innovation and Scaling for Impact. Stanford: University Press.

kommentieren

Newsletter – Lesenswertes dann und wann per E-Mail