Hätten wir sie nicht eingerissen, wäre die Mauer heute 50 Jahre alt geworden. Am 13. August 1961 begann der Bau dieses bekanntesten Symbols der deutsch-deutschen Teilung. Grund genug für mich einmal einen kurzen Blick auf die Folgen dieser Teilung für die Freiwilligenarbeit in Ost- und Westdeutschland zu werfen.
Tatsächlich beschäftigt es mich schon eine ganze Weile, worauf mich Matthias Darberstiel vom Fundraiser Magazin einmal hingewiesen hat. Ich hatte auf der Facebook-Seite freiwilligenmanagement.de gefragt, ob meine These, das freiwillige Engagement hänge von der Milieuzugehörigkeit ab, denn stimmen würde bzw. ob es denn Gegenargumente gebe. Matthias kommentierte:
Bei einem Bericht über die Tafeln haben wir festgestellt, das im Osten vornehmlich Betroffen, Ältere oder „wenig Betuchte“ die Führung von Tafeln übernehmen. In den alten Ländern findet man dann dagegen einige Charity-Ladys, die Tafeln aktiv führen. Wir glauben also nicht das es mit dem Milieu zusammenhängt.
Ich habe mir die entsprechende Ausgabe — es war eine der ersten — des Fundraiser Magazins herausgesucht und tatsächlich war in einem Artikel über die Tafeln zu lesen:
Die 20000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer der Tafeln tragen mit ihrem Engagement dazu bei, dass über 100000 Tonnen Lebensmittelspenden regelmäßig rund 500000 bedürftige Menschen in ganz Deutschland erreichen. Wer sich engagiert, ist dabei in Ost und West sehr unterschiedlich. Sind es im Westen eher die Damen der Gesellschaft oder große Wohlfahrtsverbände, so sind es im Osten meist die Betroffenen selbst beziehungsweise Rentner und Vorruheständler, die mit anpacken (Darberstiel 2006: 8)
Ein schlagendes Gegenargument! War meine These, dass das freiwillige Engagement in (ganz) Deutschland hauptsächlich von den bürgerlichen Milieus getragen würde, sind es in den „neuen Bundesländern“ also auch die Menschen, die dem Anschein nach unteren Gesellschaftsschichten entstammen. Doch ganz kampflos will ich meine These doch nicht aufgeben.
Freiwilligenarbeit, Gesellschaftsschicht und Milieuzugehörigkeit
Zunächst hängt die Milieuzugehörigkeit nicht nur vom Einkommen ab. Das Einkommen — bzw. die materielle Ausstattung — korrespondiert vor allem mit der „Schichtzugehörigkeit“. Die Einteilung der Gesellschaft in Milieus geht über diese Schichtung der Gesellschaft hinaus, ist weit differenzierter. Milieus beschreiben vor allem Einstellungs- und Geschmackscluster, die maßgeblich durch die jeweilige Sozialisation — bzw. die „Inkorporation“ der jeweils umgebenden Kultur — bestimmt werden. Ein Grund bspw. dafür, warum Kinder — trotz enormer Anstrengungen in der Jugend — im als Erwachsenenalter häufig erstaunliche Ähnlichkeit mit ihren Eltern aufweisen.
Ein Blick auf die Kartoffelgrafik der Sinus Milieus™ reicht aus, um zu erkennen, dass auch Menschen, die dem traditionellen Milieu zugeordnet werden, nicht unbedingt „Mittelschichtler“ sein müssen. Das traditionelle Milieu reicht weit in die gesellschaftliche Unterschicht herein, was eben heißt, dass es auch in diesem Milieu Menschen gibt, die sich wegen ihrer schlechten finanziellen Lage über die Tafeln mit Lebensmitteln versorgen. Dieser Versorgung mit Lebensmitteln muss allerdings nicht zwingend heißen, dass die Betreffenden ihre Lebenslage tatsächlich als prekär einschätzen (wenngleich das defacto der Fall sein mag). Es ist ebenso vorstellbar, dass sie das Angebot der Tafeln aus reinem Kostenkalkül nutzen. Es ist einfach billiger als die Versorgung mit Lebensmitteln aus dem Supermarkt, zudem bleibt so vielleicht auch noch der eine oder andere Euro für die Freizeitgestaltung, Urlaub usw. übrig. Das freiwillige Engagement für die Tafeln kann demnach als eine Art Gegenleistung verstanden werden.
Alltagskulturelle Unterschiede in Ost und Westdeutschland
Doch warum ist das nicht in Ost und Westdeutschland gleich? Warum gibt es — auch statistisch nachweisbare — Unterschiede zwischen dem freiwilligen Engagement in Ost- und Westdeutschland? Warum gilt im Westen bspw.: „Je besser das Gefühl ökonomischer Versorgung, desto höher das freiwillige Engagement“ (Gensike 2009: 47)“, während es im Osten praktisch keinen Unterschied im freiwilligen Engagement der Menschen aus gut oder schlecht situierten Haushalten gibt (ebd.)? Eine Mögliche Antwort auf diese Fragen währe heute 50 Jahre alt geworden: Die Mauer. Oder konkreter, die Errichtung zweier Wirtschaftssysteme, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: In der sowjetisch besetzten Zone die Planwirtschaft, in der von den Westmächten besetzten Zone die Marktwirtschaft.
In seinen Büchern über den „Kulturschock Deutschland“ beschäftigt sich Wolf Wagner mit den kulturellen Unterschieden, die diese Systeme hervor brachten. Wagner interessiert sich dabei vor allem für die unterschiedlichen Alltagskulturen in Ost und West, die seiner Ansicht nach während der Wiedervereinigung einen massiven Kulturschock auf beiden Seiten auslösten. Eben dieser Fokus auf Alltagskultur in Ost und West ist m.E. hilfreich, um Unterschiede im freiwilligen Engagement zu erklären. Der „Eigensinn“ von Freiwilligenarbeit und Ehrenamt hängt schließlich eng mit vorherrschenden alltagskulturellen Gegebenheiten zusammen.
Wenn also — wie Wagner schreibt — die Menschen im Westen Deutschlands während der deutsch-deutschen Teilung mittelständischer und amerikanischer geworden sind, während die Menschen im Osten deutscher geblieben und proletarischer geworden seien, findet sich hier zumindest eine Erklärung für das Engagement der „Betroffenen“ für die Tafeln in den „neuen Bundesländern“: Diese — das ergab eine Albus-Befragung 1998 — sehen die Arbeit wesentlich häufiger als „sehr wichtig“ an (52,9%) als die Befragten in den alten Bundesländern (37,%). Zudem würden „Fleiß und Ehrgeiz, Ordnung und Sicherheit, Disziplin und Pflichterfüllung“ wesentlich höher gehalten als im Westen, wo die Menschen eher auf Genuss ausgerichtet und Pflicht- und Normerfüllung tendenziell kritisch gegenüber stehen (Gensike 1998; zit. nach Wagner 1999:46f.). Die Spuren der DDR als „Gesellschaft der Gleichheit“ hatte also auch knapp 10 Jahre nach der Öffnung der Mauer deutliche Spuren hinterlassen, die sich m.E. auch heute noch finden lassen.
Aufschlussreich finde ich an dieser Stelle eine Momentaufnahme der Alltagskultur in der DDR, die Wagner aus dem Buch „Die Ostdeutschen — Kunde von einem verlorenem Land“ von Wolfgang Engler zitiert:
Es sollte einem nicht schlechter gehen als den anderen, besser nur insoweit, als es nicht den berechtigten Neid der Umwelt errege […] Ein jeder blickte eifersüchtig auf die über ihm, voll echten Mitgefühls auf die unter ihm Stehenden, stets darauf bedacht, schroffe Unterschiede zu mildern, wen möglich auszugleichen, und sei es unter Preisgabe eigener Vorteile.
Dass das freiwillige Engagement in den „neuen Bundesländern“ also auch heute noch nicht mit der finanziellen Ausstattung der Freiwilligen korrespondiert und sich insofern von der Freiwilligenarbeit im Westen unterscheidet, zeigt, das sich alltagskulturelle Unterschiede im Selbstverständnis als Bürgerin oder Bürger beharrlich halten. Vor allem für jene, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind — und dazu dürften die von Matthias angesprochenen „Betroffenen“ zählen — sind die Ideale der Gleichheit und Pflichterfüllung, der Reziprozität und des sozialen Friedens sicherlich wesentliche Motivationen zu ihrem sozialen Engagement.
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