Jugend in der Zivilgesellschaft: ein Blick in die Sonderauswertung des Freiwilligensurvey 2009

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Cover "Jugend in Zivilgesellschaft"Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hat Sibylle Picot die aktuellen Daten des akutellen Freiwilligensurveys zu Jugend in der Zivilgesellschaft ausgewertet. Im Vordergrund stand die Frage, „wie stark Jugendliche eine Rolle in der Zivilgesellschaft wahrnehmen“ (Picot 2012: 13 | Kurzstudie). Möglich geworden ist diese – im Vergleich zur vorletzten Erhebungswelle des Freiwilligensurveys 2004 (Picot 2005: 202) differenziertere Untersuchung – durch die Finanzierung der Bertelsmann Stiftung sowie die der Generali Zukunftsfonts. Durch die Aufstockung der Stichprobe junger Menschen (14-24 Jahre) um 1000 Interviews durch die BS und die Aufstockung der Gesamtstichprobe (>14 Jahre) um weitere 1000 Interviews durch die Generali ergab sich eine belastbare Stichprobe von 2.815 jungen Menschen, auf deren Grundlage verschiedene statistische Verfahren gerechnet werden konnten.
Die Studie ist in sechs Teile untergliedert, in denen auf unterschiedliche Teilaspekte zivilgesellschaftlicher Aktivität junger Menschen eingegangen wird. Interessante Befunde, die sich nicht ohnehin schon aus dem Hauptbericht des letzten Freiwilligensurveys hätten lesen lassen können, liefert die Studie in beinahe jedem dieser Kapitel.

  1.  „Aktivität und freiwilliges Engagement Jugendlicher im Zeitverlauf“,
  2. „Wo und wie engagieren sich Jugendliche“
  3. „Engagement und Lebenslagen Jugendlicher im Wandel“
  4. „Erklärungsfaktoren für Engagement im Zusammenhang“
  5. „Motivation und Wertehintergrund des Engagements Jugendlicher“
  6. „Strukturen des Engagements Jugendlicher“

Sporadisches Freiwilligenengagement?!

In Abschnitt 1.3 des ersten Kapitels finden sich zunächst empirische Belege dafür, dass junge Menschen zwar insgesamt weniger Zeit für das Engagement aufwenden als früher, sich in ihrer zeitaufwändigsten Freiwilligentätigkeit vom bundesdeutschen Durchschnitt aber kaum unterscheiden. Über die Hälfte (64%) der engagierten 14 bis 24-jährigen wenden bis zu 20 Stunden im Monat für ihre zeitaufwändigste Tätigkeit auf (Engagierte Insgesamt: 68% | Picot 2012: 28). Dass Sibylle Picot daraus allerdings den Schluss zieht, „für die Flüchtigkeit oder zeitliche Unverbindlichkeit findet sich auch im dritten Freiwilligensurvey kein Beleg“ (ebd. 29f.), kann ohne den Kontext etwas in die Irre führen.
Picot untersucht hier nur die engagierten Jugendlichen, nicht jene noch nicht engagierten Interessierten. Die Feststellung also, jugendliches Engagement sei genauso wenig unverbindlich und fluid wie das Engagement anderer Altersgruppen, steht demnach nicht im Widerspruch zur These der Notwendigkeit neuer Wegen zum freiwilligen Engagement. Sie muss eigentlich als Beleg dafür angesehen werden. Sibylle Picot zeigt hier eigentlich die starke Bindungskraft freiwilligen Engagements auf. Heißt also: Landen junge Menschen einmal im Engagement, verwenden Sie beinahe gleich viel Zeit darauf wie ältere Freiwillige. „Für die engagierten Jugendlichen ist ihr Engagement in aller Regel eine feste Größe“ (Picot 2012: 31).

G8 und Ganztagsschule – Störfaktoren für freiwilliges Engagement?!

Mit der Frage nach der Zeitkonkurrenz, in der jugendliches Engagement steht, beschäftigt sich Picot im Abschnitt 3.1. (ebd.: 69ff.). Hier finden sich m.W. das erste Mal empirisch belastbare Belege für die auch von mir angenommenen negativen Auswirkungen der Ganztagsschule wie auch des G8-Abiturs auf das freiwillige Engagement junger Menschen. Zwar hat sich die Engagementquote der Schülerinnen und Schüler insgesamt nicht nennenswert verändert, doch verwendet diese Gruppe heute wesentlich weniger Zeit auf ihr Engagement als früher. Zudem zeigt ein Blick auf die unterschiedlichen Gruppen von Schülerinnen und Schülern, dass sich Haupt- und Realschüler wesentlich seltener freiwillig engagieren als Gymnasiasten (27% versus 47%), was angesichts der weithin bekannten Abhängigkeit freiwilligen Engagements vom Bildungsstatus nicht überrascht. Unter den unterschiedlichen Gruppen von Schülerinnen und Schülern zeigt sich nun aber auch, dass sich G8-Abiturienten wie auch Ganztagsschüler ebenfalls weniger freiwillig engagieren als ihre Altersgenossen in G9 und Halbtagsschule (G8 zu G9: 41% zu 51%; Halbtags- zu Ganztagsschule: 39% zu 31%).
Nun dürfen aber auch diese offensichtlich negativen Auswirkungen nicht überbewertet werden. Zwar sind Schülerinnen und Schüler, die von der Schule zeitlich stärker in Anspruch genommen werden, deutlich seltener in einem Freiwilligenengagement, doch beziehen sich diese Daten auf ganz Deutschland und werden dementsprechend von den Quoten aus den alten Bundesländern dominiert. „Im Osten, wo das G8 schon länger besteht, lässt sich – bei geringeren Fallzahlen – dieser Effekt [geringeres Engagement Anm. H.J.] nicht nachweisen“ (Picot 2012: 71). So ist also zu vermuten, dass sich mit der Zeit auch im Westen Deutschlands ein Arrangement zwischen Schule und Freiwilligenengagement finden lassen wird.

Nützliche Engagementprofile junger Menschen?!

Als ganz besonders Interessant empfand ich die Engagementprofile junger Menschen nach zehn Tätigkeitsfeldern (Picot 2012: 55ff.). Besonders für das Freiwilligenmanagement sind diese Profile interessant, weil sie dem Leser bzw. der Leserin vor Augen führen, wie die jeweilige Zielgruppe eigentlich strukturiert ist – heißt auch, welche Maßnahmen sich zur Werbung Freiwilliger eignen. Jugendliche Freiwillige im Sozial- und Gesundheitsbereich sind bspw. überwiegend weiblich (55%), haben überdurchschnittlich häufig einen niedrigen bis mittleren Bildungsstatus und investieren weit mehr Zeit als der Durchschnitt aller Engagierter. Wer für diesen Bereich also Freiwillige sucht, ist mit der Kommunikation in nerdigen Kanälen wie Twitter und/oder ellenlangen Blogtexten auf dem Holzweg. Viel eher dürfte sich diese Zielgruppe direkt in der Schule oder über virale Medien (z.B. Videos) ansprechen lassen.
Viel wichtiger als die Ansprache dieser Zielgruppe scheinen allerdings die Organisation und das Management ihrer Freiwilligenarbeit. Zum einen heißt weibliche Überrepräsentanz nicht, dass sich Männer für ein Engagement im Sozial-, Gesundheits- und Pflegebereich nicht ansprechen lassen – immerhin 45% der Engagierten sind männlich. Hier müssen Freiwilligenmanagerinnen und -manager eine gewisse Geschlechtersensibilität an den Tag legen und ‚weibliche‘ wie auch ‚männliche’ Engagementangebote formulieren. Der Bildungsstatus, die überdurchschnittliche Zeitinvestition sowie die Tatsache, dass sich Engagierte im Sozial-, Gesundheits- und Pflegebereich nur selten in Führungs- und Leitungsfunktionen engagieren (Picot 2012: 60), verweist zudem auf einen eher dienstleistenden Charakter dieses Engagements. Angesichts des Verhältnisses zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen im Sozial- und Gesundheitsbereich (Krimmer/Priemer 2012: 109) sollte insbesondere Letzteres zwar nicht überbewertet werden, doch scheint die Volunteer-Classification der derzeit in diesem Bereich Engagierten klar.

Mitgliedschaft, Bildungsstatus, Idealismus und Herkunft?!

Mit einer Regressionsanalyse – einem statistischen Verfahren, bei dem ermittelt wird, welche unabhängigen Variablen (bspw. Bildung, Geschlecht, Sozialstatus usw.) eine abhängige Variable (in diesem Fall freiwilliges Engagement) erklären – zeigt Sibylle Picot, dass sich jugendliches Engagement in der Hauptsache aus Mitgliedschaft und Bildungsstatus erklärt (ebd. 2012: 99). Die unabhängige Variable Mitgliedschaft in zivilgesellschaftlichen Assoziationen kann insofern wenig überraschen, als das dies eine der grundlegenden Annahmen des Freiwilligensurveys ist: Nur wer im Interview angibt, zivilgesellschaftlich aktiv zu sein (bspw. im Verein) wird im Folgenden seinem nach freiwilligem Engagement oder Ehrenamt gefragt. Und auch die Bedeutung des Bildungsstatus überrascht nicht. Diese kultur-strukturelle Variable (vgl. dazu Gensicke/Picot/Geiss 2005: 88ff.) meint schließlich nicht nur Schulbildung, sondern – wie PISA zeigt, vor allem in Deutschland – auch ‚geerbtes‘ kulturelles und soziales Kapital.
Auch wenig überrascht, dass sich die Wertorientierung des Idealismus – meint: „die Wertschätzung von Kreativität und Fantasie, von Toleranz gegenüber anderen Meinungen sowie von sozialem Engagement (‚Hilfe für Benachteiligte‘), politischem Engagement und Umweltbewusstsein“ (Picot 2012: 98) – deutlich positiv auf das Engagement auswirkt. Insbesondere im selbst organisierten Engagement für andere, im Engagement in Jugendgruppen und -initiativen, braucht es erfahrungsgemäß einigen Idealismus und Toleranz gegen über der Meinung anderer (älterer) Menschen.
Was in diesem Kapitel nun allerdings überrascht, verbirgt sich in einem Halbsatz auf Seite 94: „… ob man als Jugendlicher in einem westlichen oder östlichen Bundesland zu Hause ist, [hat] praktisch keine Bedeutung mehr.“ Im Gegensatz zum Engagement insgesamt, bei dem die unabhängige Variable ‚neue oder alte Bundesländer‘ noch wirkt, ist die Herkunft für jugendliches Engagement – zumindest statistisch – gleichgültig. Auch hier ist die Engagementförderung gefragt! Nur weil sich insgesamt weniger ‚Ossis‘ als ‚Wessis‘ engagieren, heißt das nicht, dass sich die Jugend in den neuen Bundesländern nicht für ein freiwilliges Engagement ansprechen ließe; wichtig ist es hier vor allem Gelegenheiten im lokalen Umfeld zu schaffen.

Maximalisten und Minimalisten – Anpackerinnen und Askten

Eine ebenfalls interessante Typisierung engagierter junger Menschen, die die übliche Dreiteilung der Idealisten, der Konventionellen und der Materialisten (auch bekannt als Hedonisten) mit den Maximalisten und Minimalisten ergänzt, findet sich in Abschnitt 5.3. Die Maximalisten unterscheiden sich dabei von den anderen Typen insofern, als das sie auffällig häufig große Zustimmung (bzw. bei Kontrollfragen Ablehnung) in Sachen bürgerlicher Werte aufweisen. Die Minimalisten dagegen wirken in ihrem Antwortverhalten stark zurückhaltend bzw. differenzierend. Beim Lesen entstand mir der Eindruck, dass es sich bei den Maximalisten um die Anpackerinnen und Anpacker handelt, denen vor allem die Gelegenheit zum Engagement gegeben werden muss. In dieser Gruppe finden sich sehr häufig mittlere Bildungsstatus, überwiegend viele weibliche Befragte und ein vergleichsweise hoher Anteil von jungen Menschen mit Migrationshintergrund.

Hier finden sich also die aufstiegswilligen und vermutlich gut integrierten jungen Migrantinnen und Migranten, die sich in ihrer bürgerlichen Wertorientierung nicht grundsätzlich von der Mehrheit unterscheiden – oder nur insofern, als sie eine besonders starke Wertorientierung und wohl auch hohe Zielstrebigkeit aufweisen (Picot 2012: 114).

Bezüglich der Minimalisten beschlich mich dagegen der Eindruck, es handele sich hier um jugendliche Asketen, die so lange über das Für und Wider ihres Engagements nachdenken, dass, wenn sie einmal zu einer Entscheidung gekommen sind, die Gelegenheit zum anzupacken längst passé ist. In dieser Gruppe finden sich überwiegend männliche, relativ junge, Jugendliche mit einem vergleichsweise hohen Bildungsstatus, was darauf schließen lässt, dass eben aus dieser Gruppe die zukünftigen Führungs- und Leitungspersönlichkeiten mit langen Engagementbiographien rekrutiert werden können.

Fazit

Trotz des leichten Rückgangs jugendlichen Freiwilligenengagements, der im Gegensatz zum Trend insgesamt verläuft, müssen junge Menschen weiterhin als hochaktive Gruppe in der Zivilgesellschaft gelten. Sie sind überdurchschnittlich häufig zivilgesellschaftlich aktiv und bekunden ebenso häufig ihre Bereitschaft zum freiwilligen Engagement. Es scheint so, als wären alle Voraussetzungen für gelingende Engagementförderung gegeben, doch darf nicht vergessen werden, dass jugendliches Engagement – und ganz besonders jenes Engagement der bislang ‚nur‘ Handlungswilligen („bestimmt“ Bereiten) jugendlichen – besserer Strukturierung bedarf. Häufig fehlen schlicht die Engagementgelegenheiten im lokalen Umfeld bzw. das Wissen um die gegebenen Möglichkeiten. Insofern ist es schade, dass Sibylle Picot der Rolle des Internets im freiwilligen Engagement  nur ein sehr kurzes Kapitel widmet und dieses auch noch mit unbegründeten Befürchtungen streckt, die elektronische Kontaktpflege könnte zulasten der realen Sozialkontakte gehen (ebd. 2012: 50).
Alles in allem ist der Band zu Jugend in der Zivilgesellschaft aber sehr zu empfehlen. Neben den Engagementforscherinnen und -forschern ist der Band vor allem Interessierten aus dem Bereich der Engagementförderung ans Herz zu legen. Insbesondere die Typisierungen und Profile können dem Freiwilligenmanagement bei der organisationalen Ausrichtung auf neue Zielgruppen gute Dienste leisten. Die 22,- € für 183 Seiten verständlich erklärter empirischer Bildungsforschung sind eine gute Investition.

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