Blick ins Buch: Evangelische engagiert — Tendenz steigend

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Das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut (EKD) gab Mitte dieses Jahres die Sonderauswertung des dritten Freiwilligensurveys für die evangelischen Kirchen in Deutschland heraus. Stephan Seidelmann[i] fasst auf 39 Seiten die Ergebnisse zusammen und interpretiert sie. Wenngleich diese Sonderauswertung ungewöhnlich kurz ist, finden sich darin doch einige interessante Erkenntnisse, die, verbunden mit dem aktuellen Forschungsstand in diesem Bereich, für die Engagementförderung im sozialen Bereich nützlich sein dürften. Zum einen liegt der Altersdurchschnitt der in der Kirche Engagierten eher über als unter dem gesamtdeutschen Mittelwert von knapp 44 Jahren (Seidelmann 2012: 22), was auch vom „sozialen Ehrenamt“ bekannt ist (Genicke/Geiss 2010: 158). Zum anderen weisen Engagierte in der evangelischen Kirche wie auch im sozialen Bereich ein etwas „ernsteres“ Motivationsprofil auf (Seidelmann 2012: 10; Gensicke/Geiss 2010: 120), was heißt, dass bei ihnen eher Engagementwerte wie „Benachteiligten helfen“ im Vordergrund stehen (dazu Emmerich 2012: 159). Und auch die Engagementquoten stimmen nachdenklich: In 2009 waren 2,7% der Deutschen in der evangelischen Kirche engagiert (Seidelmann 2012: 12). Rechnet man die 2,3% der in der katholischen Kirche Engagierten hinzu (ebd.), kommt man schon relativ nah an die Quote des gesamten sozialen Engagementbereichs von 5,2% (siehe Gensicke/Geiss 2010: 7). Für meinen aktuellen Arbeitsschwerpunkt „soziales Ehrenamt“ scheint das freiwillige Engagement in den evangelischen Kirchen also sehr interessant. Grund genug, einen Blick in die vorliegende Sonderauswertung zu werfen und herauszufinden, was man bei den evangelischen Kirchen abschauen könnte.

Die Kirche als „Motivationsquelle des Ehrenamts“

Schon vor der EKD-Sonderauswertung des Freiwilligensurvey zeigten bereits unterschiedliche Studien, dass starke Kirchenbindung mit einem hohen Grad an freiwilligem Engagement in Verbindung steht (Petersen 2012: 53; Bühler 2010: 81; Emmerich 2012: 157f.). Erklärt wird dies einerseits damit, dass das Gebot der Nächstenliebe auch ein Gebot zu freiwilligem Engagement für andere ist. Insbesondere in kirchnahen Gemeinschaften — so lässt sich an dieser Stelle vermuten — trägt das Befolgen des Gebotes der Nächstenliebe einen wesentlichen Teil zur Bildung eines Wir-Gefühls bei („Wir engagieren uns für andere“) und dürfte dem Einzelnen auch einen gewissen Statuserhalt bzw. -gewinn versprechen, was sich wiederum positiv auf die Verbundenheit mit der Gemeinschaft auswirken dürfte. Kurz gesagt: In kirchennahen Gemeinschaften lohnt sich freiwilliges Engagement, was auch der hohe Anteil interessenorientierter Freiwilliger (37% 33% siehe S. 20) in der evangelischen Kirche bestätigt, denen die eigene Anerkennung wichtig ist (dazu Gensicke/Geiss 2010: 122).[ii]
Andererseits verfügen die Kirchen in Deutschland über eine flächendeckende Infrastruktur, die, verbunden mit einer auf der ganzen Welt bekannten ‚Marke‘ (†), konkrete Engagementgelegenheiten vor Ort anbietet. Weiterhin sind die Kirchen eine der ganz wenigen zivilgesellschaftlichen Institutionen, die — bedingt durch ihre Historie — das sog. „Homophilie-Prinzip“ der Vergemeinschaftung durchbrechen können (Emmerich 2012: 112). In der Kirche kommen nicht nur Menschen mit ähnlichen Sozialstatus zusammen, wie es in anderen Engagementbereichen der Fall ist (bspw. im Umweltschutz oder in Politik und Interessenvertretung). Damit verfügen die Kirchen über ein recht hohes Mobilisierungspotential, was sich in der EKD-Sonderauswertung bspw. anhand des kirchlichen Engagements in den neuen Bundesländern zeigen lässt: Zwar fällt die Engagementquote in den evangelischen Kirchen im Osten etwas geringer aus als im Westen Deutschlands (2,1% in den neuen, 2,8% in den alten Bundesländern), doch gibt Seidelmann (S. 14) zu bedenken, dass im Osten Deutschlands sehr viel weniger Menschen der evangelischen Kirche — oder der Kirche überhaupt — angehören als im Westen. Berücksichtigt man dieses Ungleichverhältnis, dann ist das Engagement unter den Angehörigen der evangelischen Kirche im Osten sogar etwas stärker als im Wesen Deutschlands. Die Kirche — und vor allem die evangelische Kirche — bietet Menschen in den neuen Bundesländern also Gelegenheitsstrukturen für freiwilliges Engagement, die ganz offensichtlich auch genutzt werden.
Zusammenfassen lässt sich an dieser Stelle, dass die evangelische Kirche in struktureller wie kultureller Hinsicht eine „Motivationsquelle des Ehrenamtes“ ist: Sie bietet in ihren Gemeinden Gelegenheitsstrukturen, die, mit einem globalen Wertekanon verknüpft, Gemeinschaften bilden, in denen sich freiwilliges Engagement lohnt. Doch auch wenn dies im Allgemeinen sehr gute Voraussetzungen für die Mobilisierung freiwilligen Engagements sind, sind sie nicht nur der evangelischen Kirche zu Eigen. Auch andere zivilgesellschaftliche Verbände verknüpfen mit ihrer Arbeit einen globalen Wertekanon und bilden Gemeinschaften, in denen sich freiwilliges Engagement als „wertrationales Handeln“ darstellt, in das Menschen in nicht unerheblichem Maße investieren (Zeit, Geld, Know-How usw.).

Von der evangelischen Kirche lernen

Für meine Ausgangsfrage, was man für die Förderung sozialen Ehrenamts denn von der evangelischen Kirche lernen könnte, stellt sich an dieser Stelle also die Frage, was die Kirchen überhaupt besonders macht. Oder anders: Wie es die evangelischen Kirchen geschafft haben, nicht nur die Zahl der freiwillig Engagierten in ihren Gemeinden um 0,9% bzw. in ganzen Zahlen 700.000 Freiwillige (S. 13) zu erhöhen, sondern auch bei jugendlichem Engagement Fortschritte ‚gegen den Trend‘ zu machen? Während die (Fach-) Welt der Engagementförderung und -forschung der Straffung von Schul- und Ausbildungszeiten im Allgemeinen ‚Engagementfeindlichkeit‘ attestiert, bringt es die evangelische Kirche fertig, das jugendliche Engagement in ihren Gemeinden von 1,6% in 1999 auf 2,4% in 2009 zu steigern (S. 25).[iii]

Leider gibt die sehr knappe Sonderauswertung der evangelischen Kirchen in Deutschland nur sehr wenige Anhaltspunkte, um diese Fragen fundiert zu beantworten. Aus dem Teil fünf zum „Engagement in der Kirche“ lassen sich allerdings drei Punkte zusammentragen, die m.E. auf eine engagementfreundliche Organisationskultur in den evangelischen Kirchen verweisen:

  • Was die evangelische Kirche für die Engagementförderung definitiv besonders macht, ist, das sie es (mind. in Ansätzen) schafft das Homophilie-Prinzip der Vergemeinschaftung zu durchbrechen. Mit ihren Gemeinschaften, in denen Menschen unterschiedlicher Einkommens- und Bildungsschichten zusammenfinden, kommt die evangelische Kirche dem Ideal einer inklusiven Zivilgesellschaft sehr nahe — näher zumindest als die meisten Bürgergruppen, -initiativen und -vereine.
  • Eine herausragende Bedeutung für die Gewinnung neuer Freiwilliger spielen in den evangelischen Kirchengemeinden „leitende Personen“ (S. 24). Es bleibt zwar Unklar, welcher Personenkreis damit genau gemeint ist, doch  kann man, denke ich, davon ausgehen, dass die Gewinnung neuer Freiwilliger in den evangelischen Kirchengemeinden ‚Chefsache‘ ist; m.E. ein zweites Alleinstellungsmerkmal der evangelischen Kirche, von dem andere Organisationen lernen können.
  • Ein dritter Grund, warum es mit dem freiwilligen Engagement in der evangelischen Kirche vergleichsweise gut läuft, scheint mir in der Schaffung guter Rahmenbedingungen für das Ehrenamt zu liegen. Zwar gibt die Sonderauswertung keinen direkten Hinweis auf das Vorhandensein von Freiwilligenmanagerinnen und -managern bzw. -koordinatorinnen und -koordinatoren, doch lässt die im Vergleich zu 1999 deutlich gesunkene Zahl in ihrem Engagement überforderter Freiwilliger bei gleichzeitigem leichten Anstieg fachlicher Anforderungen im Ehrenamt (S. 29) auf ein gelingendes Matching bzw. die Vermittlung bedarfsgerechter Fort- und Weiterbildungen vermuten.

Schluss

Über diese drei Punkte hinaus kann ich keine weiteren Besonderheiten der evangelischen Kirchen als Akteur der Engagementförderung im sozialen Bereich ausmachen, wobei ich mich hier natürlich gern eines Besseren belehren lasse. Für mich bestätigt sich hier einmal mehr, dass es vor allem von der Organisationskultur abhängt, ob der Einbezug freiwillig Engagierter auf lange Sicht gelingt oder nicht. Offen bleibt an dieser Stelle allerdings die Frage, inwieweit diese engagementfreundliche Organisationskultur, die ihrer Art nach auch Diversität zulässt, das Experimentieren mit neuen Wegen zum freiwilligen Engagement möglich macht. Werden also vielleicht die evangelischen Kirchen Vorreiter in Sachen Online- und Micro-Volunteering werden? Das Potential dazu haben sie.


[i] Stephan Seidelmann sei dieser Stelle für die nützlichen Tipps für diesen Blick ins Buch gedankt.
[ii] Weiterhin bleibt der Motivationstyp der Gemeinwohlorientierung mit 46% kennzeichnend für die evangelische Kirche. Dass der Anteil der Interessenorientierten in den letzten 10 Jahren allerdings überdurchschnittlich zugenommen hat (von 27% auf 33%) zeigt, dass die Kirche in der Tat für sehr unterschiedliche Menschen eine Motivationsquelle zum Ehrenamt ist.

[iii] Leider ist der Frage, wie das jugendliche Engagement in der evangelischen Kirche gesteigert wurde, aufgrund einer zu kleinen Stichprobe von 532 Befragten nicht wirklich zu klären. Nichtsdestotrotz wollte ich hier auf diesen Achtungserfolg hinweisen.

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