Unlängst war ich eingeladen, über „Fluch und Segen der Digitalisierung in einer älter werdenden Gesellschaft“ zu sprechen. Die Veranstalter – die Konrad Adenauer Stiftung, der PARITÄTische Thüringen und die Thüringer Landesmedienanstalt – baten mich, den Fokus auf Assistenztechnik und Teilhabe zu legen und im Anschluss mit Manouchehr Shamsrizi (Retrobrain), Beate Meißner MdL (CDU) und Prof. Jürgen Müller (Duale Hochschule Gera-Eisenach) über ethische Fragestellungen der Gestaltung des digitalen Wandels zu sprechen.
Die wesentlichen Punkte meiner Überlegungen will hier kurz zusammenfassten. Die Langfassung gibt es als Aufzeichnung des Talks, den Christian Stadali (Wortwerk Weimar) moderierte.
Die älter werdende Gesellschaft
Wenn wir von einer älter werdenden Gesellschaft sprechen, sprechen wir nicht nur von hochbetagten Greisen! Im Grunde sprechen wir von einer Gesellschaft, die, mehr als jemals zuvor, von allen Generationen aktiv gestaltet werden muss und gestaltet wird.
- Eine Gesellschaft natürlich, die im Durchschnitt älter wird und in der die Menschen, dank medizinischem Fortschritt, länger selbstständig leben können. Hochrechnungen zeigen, dass etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung 2050 über 65 Jahre alt sein wird und weitere knapp 20 Prozent noch nicht im Arbeitsleben stehen werden (SVR Migration 2021, S. 2). Wenn also die Hälfte der Deutschen 2050 keine Sozialbeiträge leisten werden, bedeutet das natürlich, dass wir in Deutschland, mehr als je zuvor, auf Einwanderung angewiesen sind und die älter werdende Gesellschaft also auch eine buntere Gesellschaft sein wird.
- Wenn wir von einer älter werdenden Gesellschaft sprechen verschiebt sich auch der Fokus von der Stadt aufs Land beziehungsweise von den Großstädten auf Klein- und Mittelstädte bis 100.000 Einwohner!nnen. Die innerdeutschen Wanderungssalden zeigen seit 2011 eine deutliche Trendwende: Insbesondere Familien und ältere Menschen zieht es aus den großen Städten. 70% der deutschen Bevölkerung wohnt heute schon in Klein- oder Mittelstädten (Kholodilin 2017).
- Und wenn wir von einer älter werdenden Gesellschaft sprechen, sprechen wir auch von Menschen, die, besser als jemals zuvor, für die dritte Lebensphase und einen gesunden „Unruhestand“ gerüstet sind. Eine interessante kleine Studie aus der Schweiz zum Beispiel gibt Hinweise darauf, dass vor allem ältere Menschen das Internet und die Sozialen Medien im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe sehr wohl zu nutzen wissen – laut den Autoren dieses Papers sogar besser als die jüngere Generation (Filsinger / Freitag 2018).
Kurzgefasst: Wenn wir von einer älter werdenden Gesellschaft sprechen, sprechen von einer vielfältigeren Gesellschaft, einer Gesellschaft, die lokal gestaltet wird und einer Gesellschaft, in der sich individuelle Defizite, wie eingeschränkte Mobilität, Seh- oder Hörvermögen durch digitale Technik weitgehend ausgleichen lassen.
Digital-Soziale TEchnik
Beim Schlagwort digitaler Assistenzsysteme in einer älter werdenden Gesellschaft schweifen die Gedanken zu „Ambient Assisted Living“ – digitale Technik, die hochbetagten Menschen oder Menschen mit Behinderungen das Leben in den eigenen vier Wänden einfacher und sicherer machen soll. Wenn wir aber das Schlagwort „digitale Assistenzsysteme“ googeln, bekommen wir was ganz anderes gezeigt: Autos, Einparkhilfen, Bremsassistenten und blinkende Kaffeetassen auf dem Tacho.
Was diese Assistenzsysteme mit dem AAL gemein haben? Sie sollen das Leben einfacher machen. Und nicht nur das Leben von Autofahrerinnen und Autofahrern, Hochbetagten oder Menschen mit Behinderungen, sondern das Leben der meisten von uns.
Digitale Assistenten sind für viele von uns zu einer zweiten Haut geworden. Allem voran das Smartphone! Mit seinen zahlreichen Sensoren hilft es uns, uns in fremden Städten zurecht zu finden, mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben, schöne Fotos zu machen (auch das können viele ohne Assistenz kaum noch) und Wissen jederzeit abrufbar zu halten. Smarte Uhren, Sprachassistenten, intelligente Kühlschränke und alles, was man noch so unter dem Schlagwort „Internet of Things“ findet, kommt dann natürlich auch noch dazu.
Durch diese ‚Explosion‘ digitaler Assistenzsysteme verschwimmen natürlich die Grenzen zwischen durchdigitalisiertem Alltag und professionellen Hilfesystemen der Sozialen Arbeit. Dass finanzstarke, international agierende Player wie Google und Apple in dieser Entwicklung kräftig mitmischen, macht die Sache nicht eben einfacher. Im Grunde heißt es heute: Assistenz ein Leben lang und Stigmatisierung by Design …
In Sachen Teilhabe und Engagement in einer älter werdenden Gesellschaft, in der digitale Assistenz wie selbstverständlich dazugehört, allerdings tauchen noch ganz andere Herausforderungen auf. Um es kurz zu sagen: Wenn digitale Assistenzsysteme dafür entwickelt werden, das Leben einfacherer, sichererer und komfortabler zu machen, heißt das nicht, dass sie auf Teilhabe, Begegnung und Solidarität ausgerichtet sind. Manchmal gilt genau das Gegenteil!
Stephan Noller vom Digital-Thinktank D64 hat zum 15. Jubiläum von Google Maps dazu eine eindrückliche Geschichte erzählt: In seinem Frankreich-Urlaub hatte sich Noller stehts von Google Maps durch den Straßenverkehr leiten lassen. Auf einer Strecke, die er in seinem Urlaub mehrmals fuhr, wurde er eines Tages von seinem Google-Assistenten auf einen anderen Weg geschickt. Er folgte und kam pünktlich ans Ziel. Erst am Abend hörte er im Radio, dass französische Bauern überall im Land Straßenblockaden errichtet hatten, um für höhere Lebensmittelpreise zu streiken. Von dem Ziel des Streiks kann man natürlich halten was man will. Und wer im Stau steht, ärgert sich sowieso. Den Anlass aber, Solidarität mit den französischen Bauern zu zeigen, hatte der Google-Algorithmus ohne viel Trara einen Riegel vorgeschoben. Er hat einfach funktioniert und Stephan Noller pünktlich ans Ziel geführt. Menschliche Begegnung, Teilhabe und Solidarität wurden ihm schlicht nicht einprogrammiert.
Ganz ähnlich verhalten sich auch andere digitale Assistenzsysteme in der Interaktion mit Menschen: Sie funktionieren einwandfrei, verschwinden damit aus dem Blick und gestalten das Zusammenleben in einer digitalen Welt aus dem Hintergrund. Armin Nassehi hat dieser unheimlichen Macht funktionierender Technik in seinem Buch „Muster“ ein ganzes Kapitel gewidmet. Zu digital-sozialer Technik schreib er:
Auch Digitaltechnik ist in der Lage, die Anschlussformen sozialer Systeme zu verändern und damit nicht nur sozial anschlussfähig zu werden, sondern selbst sozial zu werden.
(ebd. S. 201).
Digitale Assistenz, Engagement & Teilhabe
Es lässt sich kaum verleugnen, dass digitale Technik mit ihrer vernetzten Sensorik viel Potential für bürgerschaftliches Engagement und Teilhabe bietet. Und zwar nicht nur für Hochbetagte und Menschen mit Behinderungen, sondern für alle Menschen. Digitale Assistenzsysteme sind zu etwas wie einer zweiten Haut der meisten von uns geworden. Und das ist auch eine der zentralen Herausforderungen, auf die ich in meinem Input hinweisen wollte:
Wenn es um digitale Technik geht, werden oft Fragen des Datenschutzes und der Geschäftsmodelle gestellt und kritisch diskutiert. Sicher ist das auch richtig so! Mein Kredo allerdings ist es, auch auf die jeweilige Funktion zu schauen und zu fragen, ob diese oder jene Technik uns mehr auseinander oder besser zusammenbringt.
Technik, die uns zusammenbringt, die uns gemeinsam wirken lässt, kommt im bürgerschaftlichen Engagement oft zum Einsatz. Sie hilft uns dabei das Zusammenwirken zu flexibilisieren und das Engagement als eine der konkretesten gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten zugänglich zu machen. Sie hilft uns auch dabei, globale Wissens- und Netzwerkressourcen für lokale Engagement-Netzwerke nutzbar zu machen. Nicht mehr nur Informationen in irgendwelchen Newslettern sind wichtig, sondern auch der Austausch mit anderen Engagierten, die eben nicht um die Ecke wohnen.
Und nicht zuletzt erweitert die digitale Technik das Handlungsspektrum für bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt. Digitalisierung ist schließlich nichts, was man einfach nur nutzen kann. Man muss den digitalen Wandel gestalten! Zivilgesellschaftliche Netzwerke wie Hacker- und Maker-Spaces, die Open Source und Freifunk Community, Wikimedia und viele andere tun dies schon seit langer Zeit – auch hier kann sollten wir alle kräftig mitmischen, um die digitale Gesellschaft von Morgen zu einer guten, solidarischen Gesellschaft zu machen.