Leisten Sie mit Ihrer beruflichen Tätigkeit einen sinnvollen Beitrag zur Welt?
Glaubt man der kleinen Umfrage, die ich zum Jahresbeginn auf LinkedIn und Twitter startete, ist die Antwort aus meiner Social Media Bubble eindeutig: Ja! Ein bemerkenswert großer Teil der etwa 200 Antwortenden war sich offenbar sicher, keinen Bullshit-Job zu haben.
Herzlichen Glückwunsch! Denn es ist ja gar nicht so unwahrscheinlich, in so eine unsinnige Tätigkeit zu geraten. Der Bestseller-Autor David Graeber schätzte 2018, dass weltweit 35 bis 40 Prozent der Jobs völlig unnütz oder sogar schädlich sind. Der DGB-Index Gute Arbeit weist eine niedrigere Quote aus: Nach dem Report für 2021 mangelt es ‚nur‘ 18 Prozent der Befragten am Sinngehalt ihrer Arbeit.
Ob nun aber ein oder zwei Fünftel der arbeitenden Bevölkerungen für sinnlose Tätigkeiten bezahlt werden: Es muss zu denken geben, dass es sowas überhaupt gibt! Jagen wir nicht seit Jahrzehnten schon der Effektivität und Effizienz hinterher? Was ist bisher dabei rausgekommen? Beschleunigung bis zum rasenden Stillstand! Die ‚Bullshitisierung‘ durchdringt mittlerweile alle Lebensbereiche. Nicht nur in der Arbeitswelt! Auch in unserer Freizeit sind wir mit Bullshit beschäftigt, der uns nicht selten im pseudo-rationalen Gewand der Bürokratie gegenübertritt.
Symbolbild Bürokratie: Der Warteraum des Bürgeramtes
Dieser Schnappschuss stammt aus dem Warteraum eines Berliner Bürgeramts. Als ich vor ein paar Tagen dort war, irritierte mich der Hinweis gründlich, dass die Vorgangsnummern nicht fortlaufend hoch- oder runterzählen. Da ich ab diesem Moment aber damit beschäftigt war, sechsstellige, offenbar zufällig erscheinende Nummernfolgen miteinander abzugleichen, habe ich mir die Frage nach dem Warum für später ‚mitgenommen‘.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, scheint mir diese Kuriosität aus zweierlei Gründen erklärlich:
- Technisch gesehen funktioniert das IT-System dieses Bürgeramtes schlicht nicht beziehungsweise nicht gut genug, um fortlaufende Nummern auszugeben. Die Wartenden müssen deshalb gezwungen werden, ihre Wartezeit damit zu verbringen, zwei Monitore anzustarren, um ihre Vorgangsnummer nicht zu verpassen. Sehr viel sinnloser kann man seine Zeit eigentlich nicht verbringen.
- Systemisch betrachtet wird nur erklärlich, warum die kaputte IT nicht repariert wird, wenn man annimmt, dass dieses Bürgeramt streng funktional gestaltet wurde. Und zwar von jemandem, der es nicht nutzen muss. Dieser Warteraum war vollständig um die ‚Tätigkeit‘ des Wartens auf die richtige Nummer strukturiert. Nicht einmal das bloße Herumsitzen war eine Alternative: Ein Drittel der Sitze in diesem von Wachleuten umstellten Raum war mit dem Rücken zu der Wand montiert, an der die Monitore hingen.
Dass also dieser Warteraum nicht sonderlich bürger-, kunden- oder auch nur menschenfreundlich gestaltet war, ist offensichtlich. Und dass derartige Arrangements in Einrichtungen der Verwaltung (öffentlich oder privat) eher die Regel denn die Ausnahme sind, gehört zu den leidvollen Erfahrungen derer, die des Öfteren auf Leistungen solcher Einrichtungen angewiesen sind. Was also läuft hier falsch?
Bürokratie überall: Ein Blick in die Privatwirtschaft
David Graeber macht eine Art „Manager-Feudalismus“ für die Bullshitisierung der Arbeitswelt verantwortlich: Manager, die Manager managen, die Teams zu selbstorganisiertem und eigenverantwortlichem Handeln führen sollen und auf der Suche danach, was sie dafür eigentlich tun müssen, Heerscharen von Beratern und Coaches beschäftigen … Während diese kuriose Sinnlosigkeit in der Privatwirtschaft mittlerweile absonderliche Ausmaße annimmt, hält sie sich Graeber zufolge in öffentlichen Einrichtungen sogar in Grenzen.
Hier wie dort aber scheint es so, als bliebe der interne Bullshit nicht auf die Arbeit in den Organisationen beschränkt. In einem anderen Buch über Bürokratie und die Utopie der Regeln erzählte Graeber dazu eine ganz ähnliche Geschichte, wie die meine aus dem Bürgeramt: Sie handelt von seinem Bemühen um eine Vollmacht für das Bankkonto seiner kranken Mutter. Graeber erzählt, dass er sich für diesen Fetzen Papier derart verrenken musste, dass er sich kaum noch auf etwas anderes – insbesondere das richtige Ausfüllen von Formularen – konzentrierten konnte. Die Sache zog sich damit so lange hin, bis sich die Angelegenheit schließlich von selber erledigt hatte.
Entbürokratisierung: Aktueller Stand in Engagement & Ehrenamt
Mit Jürgen Habermas kann man dieses Phänomen als eine Art strukturell generierte Verantwortungslosigkeit beschreiben. Eine Verantwortungslosigkeit, die jedes einzelne System „unsensibel für die Kosten [werden lässt], die es für andere Systeme erzeugt“ (ebd. 1992: 417). So lange also ein operativ geschlossenes System in sich funktioniert, ist alles gut – egal was es andere kostet, an seiner Funktion zu partizipieren. Im Rahmen der Diskurstheorie Habermas’ gibt es dagegen nur ein Mittel: Die Zivilgesellschaft muss sich bemerkbar machen und einen gesellschaftlich relevanten Konflikt auslösen. Einen Konflikt, der zu einer veränderten Rechtslage führt.
Soweit zur Geltung! Faktisch aber wurden in der Vergangenheit aus (Einzel-) Fällen nur selten relevante Konfliktfälle. Vielmehr ließ sich die organisierte Zivilgesellschaft bei ihren Bemühungen den Konflikt mit der Bürokratie aufs Trapez zu heben immer wieder ins Bockhorn jagen:
- Der so genannte „Bürokratieabbau“ drehte sich bislang zu einem großen Teil um die Automatisierung von Verwaltungsvorgängen. Eine Automatisierung, die in der Regel dazu führt, dass alle Beteiligten mehr Formulare ausfüllen und mehr Kästchen ankreuzen müssen.
- Die Gesetzgebung zur Stärkung des Ehrenamts, die immer wieder auch mit der Entlastung von Bürokratie verbunden wird, kreiste bislang im Wesentlichen um die Erhöhung der Ehrenamts- und Übungsleiterpauschalen, mit denen der Papierkram in Vereinen auch nicht weniger wird.
- Über mögliche Lösungen für das Problem der Bürokratie in bürgerschaftlichem Engagement und Ehrenamt wird gelegentlich in Ausschüssen und Gremien unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure gesprochen. Ausschüsse und Gremien, die regelmäßig Ergebnisse produzieren, die nie das Licht einer politischen Öffentlichkeit erblicken, wo sie wirksam werden könnten.
Wenn es nach Habermas die Aufgabe der organisierten Zivilgesellschaft ist, „die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten“ (ebd.: 443), und wenn die organisierte Zivilgesellschaft in den letzten Jahren diesen Konflikt tatsächlich aufs Trapez zu heben versuchte, dann fallen die Resultate der eher dürftig aus:
- Nach Umfrage der Stiftung Aktive Bürgerschaft von 2019 gehen etwa 50 Prozent der Arbeitszeit in Bürgerstiftungen für Verwaltungstätigkeiten drauf – Tendenz steigend.
- Nach einer Erhebung des Normenkontrollrates Baden-Württemberg aus dem selben Jahr beschäftigen sich Vereine in The Länd durchschnittlich 6,5 Stunden in der Woche mit Bürokratie – das sind 42 Tage im Jahr.
Entbürokratisierung: Das Eherne Gesetz des Liberalismus
Es ist zu vermuten, dass das edle Bemühen um die „Entbürokratisierung“ in liberalen Gesellschaften auf verlorenem Posten steht: Es wird nicht weniger, sondern immer mehr Papierkram! David Graeber formuliert dies in seinem ‚ehernen Gesetz des Liberalismus‘. Es besagt:
Jede Marktreform, jede Regierungsinitiative, die den Amtsschimmel bändigen und die Marktkräfte fördern will, resultiert in der Zunahme von Vorschriften, Verwaltungsarbeit und der vom Staat beschäftigten Bürokraten.
(Graeber 2017: 14).
Wenn wir aber die Herrschaftsform der Bürokratie (Max Weber) noch nicht nicht überwinden können, was können wir tun? Gibt es vielleicht einen sinnvollen Ansatz, um mit der Bürokratie glücklich zu werden? Ja, sowas romantisches kann es geben. Der Ansatz dafür: Homo Ludens (Johan Huizinga).
Let’s Play: Bürokratie als Serious Game
Bürokratie ist ihrem Wesen nach, die unpersönliche Herrschaft der Regeln in einem hierarchischen System professioneller Arbeitsteilung. Computerspiele – insbesondere MMORPG – sind nichts anderes: Gespielt wird in arbeitsteiligen Gruppen (Zauberer, Heiler, Krieger etc.) nach festgelegten Regeln, die im Zweifel (z.B. gegenüber Hackern und Cheatern) durch hierarchisch höhergestellte Administratoren durchgesetzt werden. Warum aber machen solche Computerspiele Spaß und die Bürokratie im Bürgeramt nicht?
Am Umfang des Regelwerkes kann es kaum liegen. Ich wage zu behaupten, dass World of Warcraft nicht minder komplex geregelt ist als Verwaltungsvorgänge in größeren Organisationen und Behörden. Für letztere mag es mehr Papier zur Auslegung der Regeln geben (Richtlinie, Förderleitfäden, Gesetzeskommentare etc.). Das aber dient vorrangig einer etwas kruden Vorstellung von Transparenz, die die Willkür im Zaum zu halten soll.
Und auch an der Unpersönlichkeit der Herrschaft wird es nicht liegen. Im Gegensatz zu Computerspielen werden Regeln in Organisationen und Behörden zumindest noch von Menschen durchgesetzt, die zumindest dazu angehalten sind, über die Konsequenzen ihres Handelns nachzudenken. Auch wenn man es den Bürokraten oft abspricht: Sie sind empfindungsfähige Wesen.
Als strickt regelgeleitetes System hat die Bürokratie meines Erachtens durchaus das Potential zum Serious Game. Ich sage Serious Game, weil ich mir aktuell nicht vorstellen kann, dass irgendwer dieses Spiel zum Spaß spielt. Zum heutigen Stand ist die Bürokratie schlicht das langweiligste, grafisch am schlechtesten gestaltete Spiel der Welt. Aber immerhin arbeitet man in Kanada schon daran, die Quests besser zu erklären.
Quellen Graeber, David (2017): Bürokratie. Die Utopie der Regeln. 2. Auflage. Wilhelm Goldmann Verlag, München. Graeber, David (2021): Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. 4. Auflage. Klett-Cotta, Stuttgart. Habermas, Jürgen (1992): Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit. In: Ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 399-468. Huizinga, Johan (2021): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 22. Auflage. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg.
Nicht fortlaufende Nummern in Warteräumen von Bürgerämtern können offensichtlich zu sehr grundlegenden Betrachtungen anregen, nice!
Vor einigen Wochen im Warteraum des Bürgeramts Bonn – Bildschirme von nahezu allen Sitzen einsehbar – bin ich nicht ganz soweit gekommen, habe aber die Vermutung angestellt, dass die Nummern durchaus fortlaufend geordnet sind, wobei als Ordnungskriterium der Zeitpunkt der (Online-)Terminvergabe zählt und nicht der Termin selbst.
Ein alternativer Erklärungsversuch für den Berliner Case wäre, dass jemand im Designprozess gesagt hat „Und was ist eigentlich mit dem Datenschutz?!“, daraufhin nicken alle mit ernsten Mienen, bevor der IT-ler sagt, wir können das auch zufallsbasiert programmieren. Mit dem Gefühl der tiefen Zufriedenheit, für ein wirkliches Problem eine adäquate Lösung gefunden zu haben, endet die Sitzung. Die Teilnehmer:innen gehen mit einem Lächeln im Gesicht nach Hause.
Ich glaube, es gibt viele Erklärungen, warum das System kaputt ist. Ich fand an der Stelle aber die Frage spannender, warum es nicht repariert wird. Das Datenschutz-Ding, das du nennst, könnte da natürlich auch ein Grund sein: Wir dürfen nicht bürger-, kunden- oder menschenfreundlich designen, weil wir das im Gesetz nicht als Vorschrift finden. Das wäre dann allerdings Bullshit²