Blick ins Buch: Meme — Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter

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Unter den bunten Büchern von edition suhrkamp finde ich immer mal wieder etwas für graue Sonntage. So auch vor Kurzem wieder: „Meme — Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter“, ein Büchlein der israelischen Humor- und Internetforscherin Limor Shifman von der Hebrew University in Jerusalem. Shifman legt dar, dass der Membegriff nicht nur für das Verständnis kultureller Trends im Cyberspace nützlich ist, sondern den Kern des Web-2.0-Zeitalters verkörpert. Sie definiert diese Internet-Phänome als

(a) eine Gruppe digitaler Einheiten, die gemeinsame Eingenschaften im Inhalt, in der Form und / oder der Haltung aufweisen, die (b) in bewusster Auseinandersetzung mit anderen Memen erzeugt und (c) von vielen Usern im Internet verbreitet, imitiert und / oder transformiert wurden.

Während die Punkte (b) und (c) dieser Definition recht nachvollziehbare K.O.-Kriterien für Internetmeme als User Generated Content sind, bedarf der eher analytisch ausgerichtete Punkt (a) einer kurzen Erläuterung: Der Inhalt einer digitalen Einheit (z.B. eines Textes) verweist natürlich auf Ideen und Ideologien, die vermittelt werden sollen. Die Form dieser digitalen Einheit wiederum verweist auf deren physische ‚Verpackung‘, also das Seh- und Hörbare. Und die Haltung schließlich verweist auf den Standpunkt der Sendenden einer Botschaft in Bezug auf ihr Medienprodukt, ihre Adressaten und womöglich Nachahmer.
Besonderes Interesse verdient die kommunizierte Haltung des Senders, die Shifman anhand kommunikationsinhärenter Partizipationsstrukturen, dem Keying (z.B. Ton und Stil) und unterschiedlichen kommunikativen Funktionen einiger — teils recht bekannter — Beispiele entschlüsselt. Da ist der #OWS-Slogan „We are the 99 Percent“ und das Chinesische „Gras-Schlamm-Pferd“ als Text-Beispiele, der „Pepper-Spraying-Cop“ und das „Disaster Girl“ als Beispiele für memetische Bilder und natürlich der „Gangnam-Style“ und „Let Britney alone“ als Beispiele für Mem-Videos zu finden.

Meme versus Virals

Shifman beschäftigt sich recht ausgiebig mit der Abgrenzung von Memen und Virals bevor sie sich der „Millionenfrage“ widmet, was Inhalte viral und / oder memetisch macht.

Virals Gründerbasierte Meme Egalitäre Meme
Anzahl der Versionen eine viele viele
Verteilung der Beliebtheit Millionen Betrachter der ursprünglichen Einheit Ursprungs-Einheit weist bei Weitem die meisten Betrachter auf Aufmerksamkeit verteilt sich recht gleichmäßig
Schwerpunkt der Nachahmung keine Nachahmer beziehen sich auf Ursprungseinheit Nachahmer beziehen sich auf bestimmte Muster
Nutzerbeteiligung (Meta-) Kommentierung Veränderung der Einheit Veränderung der Einheit
Beispiele Evian Roller Babies Leave Britney Alone LOL Cats

Virals

Aus den Studien von Jonah Berger und Katherine Milkman zu der Frage, was User eigentlich dazu verleitet, Web-Inhalte in ihrem Familien- und Bekanntenkreis zu teilen, hebt Shifman sechs Faktoren hervor, die unter Marketing-Leuten wohl als „Sixpack“ bekannt sind:

  1. Positivität (und Humor): Wenn Menschen Inhalte teilen, verknüpfen sie diese auch immer mit sich selbst. Deshalb — so die Vermutung — werden positive und / oder lustige Inhalte eher geteilt als erschreckende und / oder traurige.
  2. Provokation ‚hocherregender‘ Emotionen: Inhalte die einen „Wow-Effekt“ auslösen werden nachvollziehbarer Weise sehr oft geteilt („Das muss man einfach gesehen haben.“). Aber auch Inhalte, die negative Gefühle auslösen, haben gute Chancen viral erfolgreich zu werden.
  3. Einfaches Packing: Leicht nachvollziehbare Witze und Geschichten werden häufiger geteilt, weil die Teilenden sie schnell verstehen und auch davon ausgehen können, dass sie ihre Freunde ebenso schnell und einfach verstehen — dass sie also niemandem die Zeit rauben.
  4. Hohes Prestige der Quelle: Auch Inhalte im Netz folgen dem üblichen Diffusionsverlauf in sozialen Systemen — von oben nach unten. So werden Inhalte, die von Prominenten in die Welt gebracht werden häufiger geteilt als andere.
  5. Positionierung: Die ‚Aussat“ einer Botschaft, die sich viral verbreiten soll, muss bei Knoten- oder Brücken-Kontakten liegen — User also, die sehr viele Freunde und Follower der anvisierten Zielgruppe vereinen (Knoten) oder User, die völlig neue Zielgruppen ansprechen (Brücken)
  6. Partizipationsmöglichkeiten: Niedrigschwellige Partizipationsmöglichkeiten, die die erregten Emotionen kanalisieren helfen (vorgefertigte Tweets und Facebook-Botschaften) schließlich können die virale Verbreitung von Inhalten noch weiter steigern.

Meme

Aus einer eigenen Forschungsarbeit exzerpiert Shifman ein weiteres ‚Sixpack‘ an Faktoren, die zum memetischen Erfolg von Web-Inhalten (hier insb. Videos) beitragen:

  1. Gewöhnliche Menschen: Inhalte, die nicht von Prominenten, sondern gewöhnlichen Menschen, präsentiert werden, werden wesentlich häufiger nachgeahmt und bearbeitet. Das Gefühl, an den Status der jeweiligen Protagonisten heranzureichen oder ihn gar zu überragen ist dafür ein nachvollziehbarer Grund.
  2. „Brüchige Männlichkeit“: In den meisten von Shifman untersuchten Videos präsentieren die Protagonisten (vorwiegend Männer) eine inkonsistente Geschlechterrolle, die oft als komisch empfunden wird. Ob diese Komik im Sinne des Lustigen oder im Sinne des Einzigartigen die Nachahmung anregt, bleibt dabei allerdings offen.
  3. Humor (Potential für Witz): Witzigkeit befördert auch den memetischen Erfolg von Inhalten, wobei hier nicht unbedingt das Ausgangsmaterial witzig gemeint sein muss. Vielmehr ist es das, was die User anschließend daraus machen: Bei manchen Memen wird die Verspieltheit der Produzenten des Ausgangsmaterial und bei manchen die Inkongruenz (z.B. der Geschlechterrolle) aufgenommen und weiter bearbeitet. Bei anderen entsteht der Witz dagegen durch die zur Schau gestellte Überlegenheit der Nachahmer, die sich über das Ausgangsmaterial lustig machen.
  4. Einfachheit: Auch memetisch erfolgreiche Inhalte sind einfach — ergänzend zur Einfachheit viral erfolgreicher Inhalte sind sie aber nicht nur inhaltlich einfach gestrickt sondern auch einfach produziert und dementsprechend einfach nachzuahmen.
  5. Wiederholung: Redundanz schafft Relevanz! Inhalte, die in den einzelnen Einheiten immer und immer wieder präsentiert werden (z.B. der Reitertanz in Gangnam-Style oder die Bitte „Leave Britney alone!“) tauchen in den Bearbeitungen — quasi als Marker für die Wiedererkennbarkeit — auch wieder auf.
  6. Skurrile Inhalte: Erstaunlich selten taucht in Memen tagesaktuelle Politik oder Klatsch aus der Popkultur auf. Thematisch scheinen Meme zumeist kein konkretes Thema zu haben, was die Bearbeitung und Transformation befördert: User können ihre eigenen (populärkulturellen) Präferenzen umstandslos mit dem Ausgangsmaterial verbinden.

Meme als Ausdrucksform in der öffentlichen Diskussion

Besonders der — mithin herablassende — Witz und die unkonkrete thematische Eingrenzung von Memen bescheren ihnen zuweilen den Vorwurf, für (zivil-) gesellschaftliche Aushandlungsprozesse unnütz zu sein. Kurz: Meme werden als Ausdruck einer gelangweilten, apolitischen Internetnutzerschaft angesehen. Und selbst dort, wo sich die Menschen, die hinter Internetmemen vermutet werden, politisieren — bestes Beispiel: die Occupy-Proteste — kommt man oft (vor-) schnell zu dem Schluss, dass Meme nicht zur politischen Kommunikation taugen. Dann aber, wenn genauer hingeschaut wird, zeigt sich, die Effizienz (nicht unbedingt Effektivität) memetischen Kommunikation (z.B. bei Walter et al. — Die neue Macht der Bürger).
Meme, das zeigte der US-amerikanische Web 2.0 Wahlkampf von 2008, können zum einen für die Werbung politischer Fürsprache genutzt werden: Die Politikwissenschaftler John Branstetter, Erika Franklin Fowler und Travis Ridout untersuchten seiner Zeit 3.880 Wahlkampfbezogene Youtube-Clips und stellten fest, dass parteifinanzierte Wahlkampfspots ‚nur‘ durchschnittlich 55.000 Betrachter anzogen, vom Kandidaten selbst finanzierte Clips 60.000 Betrachter aufwiesen und von Interessengruppen gesposerte Videos von 139.000 Usern angesehen wurden. Videos dagegen, die von ‚gewöhnlichen‘ Bürgern erstellt wurden, kamen auf durchschnittlich 807.000 Views und Clips, die von unabhängigen Organisationen (Agenturen, Blogger-Gruppen und Initiativen) gepostet wurden, schafften es sogar auf 2.500.000 Zuschauer. Zu letzterer Kategorie gehört das wohl einflussreichste Musikvideo seiner Zeit „Yes We Can“, dass den gleichlautenden Slogan der Kampagne memetisch erfolgreich machte.

Dass Meme durchaus diskursrelevant werden können, zeigt Shifman an Beispielen rund um den Occupy-Slogan „We are the 99 Percent“, der auf die ungerechte Verteilung des Reichtums in den USA und der Welt hinweisen sollte. Während der Proteste wurde dieser Slogan mit unzähligen, meist einfach auf weißes Papier geschriebenen Geschichten verbunden und auch in den Mainstream-Medien ausführlich behandelt. Das so angesprochene Problem und die damit verbundene Haltung der Empörung sorgte recht bald für Gegenpositionen. So lancierten konservative Aktivisten den Slogan „We are the 53 Percent“, der auf die ungerechte Verteilung der Steuerlast in den Vereinigten Staaten verwies.
Und schließlich führt Shifman mit dem Lied über die Gras-Schlamm-Pferde, die die gefährlichen Flusskrebse besiegen und damit ihr Weideland verteidigen, ein Beispiel memetischer Subversion aus China ein. In China wird — das ist bekannt — das Internet stark überwacht und Inhalte aktiv zensiert. Da dies zumeist mittels Suchbegriffen (neuerdings bekannt als „Selektoren“) geschieht, formten Internetaktivisten die jeweiligen Schriftzeichen leicht um wodurch Synonyme wie der Flusskrebs für Harmonisierung (Zensur) entstanden, die in der chinesischen Bloggerszene weithin Verbreitung fanden. Auch das Gras-Schlamm-Pferd ist so ein memetischer Erfolg. Dieser Ausdruck entstand im Zuge einer Kampagne der chinesischen Regierung gegen Internetpornografie, die als Zensur angesehen wurde. Anders als der Flusskrebs ist das Gras-Schlamm-Pferd kein Synonym für einen Selektor der Zensur sondern eine subversive Provokation: Der Name dieses Fabelwesens wird auf Chinesisch so ausgesprochen, dass er wörtlich „Fick deine Mutter“ bedeutet.

Fazit

Meinen kleinen Ausflug in die wunderbare Welt der Internet-Meme war sehr spannend und aufschlussreich. Limor Shifman, die das Thema mindestens seit zehn Jahren beforscht, seziert Meme, die in meiner Warhnehmung mehrheitlich zwar irgendwann mal aufgetaucht sind, die mir aber kaum einmal mehr als eine kurze Notiz wert waren. Demnächst werde ich ihnen wohl größere Aufmerksamkeit schenken, schließlich birgt memetische Kommunikation großes Potential — z.B. dafür „die Crowd“ besser kennen zu lernen.
tl;dr: Meme sind die neuen Virals — in Politik, Kunst und Kultur.

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