Mitmachen auf TikTok – neue Kommunikation, neue Experimentierräume

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Ende März ging der vierte Digital Social Summit über die digitale Bühne. Als Mitveranstalter sollte die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt natürlich nicht fehlen. Wir waren dabei – unter anderem mit einem Best Practice: Im Thementrack „Organisationskultur“ berichtete ich vom TikTok-Kanal der ‚Ehrenstiftung‘, der im August 2021 an den Start gegangen war.

Wie schon beim ersten Digital Social Summit 2019 stellte ich neue Kommunikationsplattformen als wertvolle Impulsgeber für die Organisationskultur dar. Während ich seinerzeit von einer Webseite mit Kontaktverzeichnis, Blog und verteilter Redaktion berichtete, ging es diesmal um TikTok. Was die beiden Sessions verbindet: TikTok ist im Nonprofit-Bereich mindestens so neu, wie Mehrautoren-Blogs damals in der Wohlfahrtspflege.

Berichten wollte ich vor allem von der Team-Dynamik, die sich um neue Experimentierräume entfaltet. Das war schon damals beim Lauch der neuen DRK-Wohlfahrt.de spannend zu beobachten. Diesmal allerdings wollte ich auch noch ein paar Takte mehr zum Rahmen unseres Experimentierraums erzählen. Ein gutes Framework dafür bot das Dagstuhl-Dreieck, das ich schon für meine ersten Annäherungen an die App nutzte.

TikTok – die App von drei Seiten

Wer sich unbekannte Tools wie TikTok näher anschauen will, dem sei das Dagstuhl-Dreieck empfohlen – ein Modell, das 2016 aus einem interdisziplinären Workshop zu „Bildung in der digitalen vernetzten Welt“ auf Schloss Dagstuhl hervorging.

Mittlerweile wurde das Modell weiterentwickelt (siehe Frankfurt-Dreieck), für eine bodenständige Annäherung an TikTok allerdings reicht das ursprüngliche Modell völlig aus. Denn die Empfehlung bleibt dieselbe. Es lohnt sich, sich neue Tools, Apps und Plattformen von drei Seiten – oder besser: aus drei Perspektiven – anzuschauen: aus der technischen, der gesellschaftlich-kulturellen und der Nutzerperspektive.

(1) Die technische Perspektive: „Wie funktioniert TikTok?“

Wie bei anderen Social-Media-Plattformen auch gibt es auf TikTok unterschiedliche Streams, in denen nutzergenerierte Inhalte dargestellt werden: Es gibt Hashtags, Handles und natürlich Sounds. Zentral aber – und das ist der Game-Changer bei TikTok – ist die so genannte „For-You-Page“: Der Stream, der als erstes angezeigt wird, wenn man die App öffnet. Was ist das Besondere an der For-You-Page?

Etwas abstrakt ausgedrückt ist das Besondere, dass der TikTok-Algorithmus nicht auf einem „Social“ sondern auf einem „Content Graph“ basiert. Der TikTok-Algorithmus zeigt nicht die Inhalte, die Usern gefallen, denen die Nutzenden folgen (wie bei Twitter, Facebook oder LinkedIn). Es werden Inhalte angezeigt, die den Nutzenden selbst wahrscheinlich gefallen. Es ist dementsprechend eine wesentlich individuellere Auswahl, für die die Vernetzung auf der Plattform (Friends und Follower) oder soziodemographische Gemeinsamkeiten – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Und wegen dieses „Content Graph“, wegen der so anderen Funktionsweise des TikTok-Algorithmus werden auf der „For-You-Page“ dauert Inhalte von Usern angezeigt, die nicht einmal „Weak Ties“ (Mark Granovetter) miteinander verbindet. Das heißt konkret dreierlei:

  • Eigentlich muss man niemandem folgen, um TikTok nutzen zu können. Man muss sich nicht einmal anmelden. Bei Nutzung inkognito allerdings gibt es keinen individualisierten Stream.
  • Auch mit einem kleinen Kanal, mit nur ganz wenigen Followern, kann man unglaubliche Reichweite erzielen. Mehr dazu weiter unten.
  • Der TikTok-Algorithmus spielt (ähnlich wie der von LinkedIn) nicht unbedingt tagesaktuellen Content aus, weshalb die Klickzahlen auch noch Wochen und Monate nach Veröffentlichung eines Videos steigen können.

Wenn wir jetzt ein bisschen rauszoomen sehen wir, dass das Modell TikTok die „Algorithmizität“ der digitalen Kultur (Felix Stalder) auf ein ganz neues Level hebt: Der TikTok-Algorithmus bezieht das konkrete Verhalten der Nutzenden als zentrales Feedback ein und testet ständig, was noch so gefallen könnte. Er ist, wenn man so will, sehr gut trainierbar – natürlich auch, weil TikTok unglaublich viele Daten sammelt.

(2) Die gesellschaftlich-kulturelle Seite: „Wie wirkt TikTok?“

Die schier unerschöpfliche „For-You-Page“ macht TikTok ziemlich time consuming. Nachdem ich die App 2019 das erste Mal ausprobiert hatte, war mein Eindruck etwas ambivalent: Die ständig neuen Inhalte haben mich schon begeistert. Nach einer Weile wurde diese eigentlich so bunte Welt voller Überraschungen aber irgendwie stumpf und gleichförmig. Man kann echt viel Zeit mit TikTok verbringen ohne dass auch nur die Spur einer neuen Erkenntnis hängen bleibt. 

Wenn wir hier aber wieder etwas rauszoomen, sehen wir deutlicher, was es zu lernen gibt: Das was ich anfangs für stumpfe Gleichförmigkeit gehalten habe, ist ein ganz wesentlicher Teil der digitalen Kultur. Neben „Algorithmizität“ wird „neue Gemeinschaftlichkeit“ durch „Referenzialität“ befördert (wieder Felix Stalder):

  • Der TikTok-Algorithmus – das hat Dirk von Gehlen mal geschrieben – ist wie der sprechende Hut bei Harry Potter: Er steckt die Nutzenden in verschiedene Gemeinschaften aus Menschen, die sie noch nie vorher gesehen haben, mit denen sie aber wohl etwas gemein haben: Interessen, Neigungen und Stile. TikTok verstärkt also das, was in der Soziologie seit den 1990er Jahren schon als Trend zu Single-Issue-Gemeinschaften beobachtet wird (siehe z.B. Ronald Hizler).
  • Diese digitalen Gemeinschaften aus Leuten, die sich nicht kennen, werden performativ erzeugt. Das heißt, sie sind nur sichtbar, wenn die Beteiligten etwas ganz Spezielles tun, das Außenstehende oft gar nicht verstehen. Sie folgen dabei den Trends und Challenges auf TikTok, bei denen sie sich auf Inhalte anderer (Sounds und Hashtags aber auch Stile und Motive) beziehen oder besser: auf sie „referieren“.

(3) Die anwendungsbezogene Seite: „Wie nutze ich TikTok?“

Wenn „neue Gemeinschaftlichkeit“ und „Referenzialität“ auf TikTok so wichtig sind, gilt auf jeden Fall: „Community is King“. Wer sich in die bunte TikTok-Welt stürzt, sollte zuerst auf Fokus, Authentizität und Augenhöhe achten. Im Prinzip das kleine Ein-Mal-Eins des Corporate oder Personal Brandings, das man ja mittlerweile in jedem zweiten Ratgeber nachlesen kann. Es gilt Wiedererkennungswerte und Identifikationspunkte zu entwickeln und also auch um Community-Management.

Es gilt aber auch konstant an „Scroll-Stoppern“ – also Merkmalen von Videos, die die Leute davon abhalten, einfach weiter zu scrollen – zu arbeiten und ein inspirierendes Narrativ zu kreieren. Das ist Entwicklungsarbeit, die viel Kreativität, Geduld und auch Durchhaltevermögen braucht. Wer TikTok nutzen will, darf nicht den Algorithmus oder die blöden User für den Erfolg oder Misserfolg verantwortlich machen. Der Algorithmus spielt jeden Content aus, nimmt aber nur mit auf den weiteren Weg, was auch gefällt; was gut und nützlich – kreativ – ist, entscheiden immer noch die anderen (Mihaly Csikszentmihalyi).

Als kurze Zusammenfassung eine Mutmacher-Story für TikTok. 

Als ich die App 2019 das erste Mal ausprobiert hatte, ist mir auf der „For-You-Page“ aufgefallen, dass ein bestimmter Sound immer wieder für Tutorials benutzt wird. Da dachte ich, ich probiere das mal aus. Ich habe mir meine Skates angeschnallt und in dem Stil wie die anderen auch einen Skatetrick erklärt. Ich hatte damals so um die 150 Follower. Aber durch den Content Graph, den Fokus auf ein Single-Issue (Skating in diesem Fall) und die Referenz auf die anderen Tutorials ging das Video viral. Heute zählt es mehr als 665k Views, über 64k Likes und knapp 300 Kommentare.

TikTok – Input, Output, Outcome

Die zugegebenermaßen sehr ausführliche Darstellung der Plattform war mir – wie gesagt – wichtig, um den Rahmen unseres Experimentierraumes zu erläutern. Es sollte klar werden, dass man mit den üblichen Metriken wie Follower oder Views bei TikTok nicht weit kommt. Ja, man kann auch erzählen, dass es der Kanal der Ehrenstiftung in weniger als sechs Monaten mit nur etwa 500 Euro Werbebudget auf mehr als 2.500 Follower und etwa 600k Video-Aufrufe geschafft hat. Über die Balance zwischen Input, Output und Outcome, den Erfolg oder Misserfolg unserer Entwicklungsbemühungen aber sagt das – wenn überhaupt – nicht sonderlich viel.

Zum einen hat die Reichweite eines Videos – wie gezeigt – wenig bis gar nichts mit der Zahl der Follower zu tun. Zum anderen variiert die Zahl der Video-Aufrufe auf unserem Kanal von etwa 200 bis 240k – je nachdem, ob das Video in eine Ad-Kampagne beworben, in einer von TikTok gefeatureten Hashtag-Challenge gepinnt oder rein organisch ausgespielt wurde. Doch selbst wenn man hier einen Durchschnitt (16,2k Views pro Video) bilden würde, sagte das noch nichts über die Interaktion mit unseren Inhalten aus.

Interaktion Messen – unsere Metriken und KPIs

Besser geeignet sind auf TikTok Metriken wie Likes, Comments und Shares – beziehungsweise die jeweilen Quoten (z.B. Likes pro tausend Views). Das ist ähnlich wie auf anderen Social Media Plattformen auch. Auf TikTok – wie übrigens auch auf YouTube – scheint mir allerdings die durchschnittliche Viewtime noch besser geeignet. Warum? Die Viewtime misst die Verweildauer, sie setzt bei der Messung früher an und macht daher auch Aussagen über User, die nicht auf das rote Herz gedrückt, einen Kommentar hinterlassen oder das Video geteilt haben.

Die durchschnittliche Viewtime kann man sich – wenn man auf TikTok seinen Kanal auf Business umgestellt hat – zu jedem Video anschauen. Bei den durchschnittlich 43 Sekunden langen Videos der Ehrenstiftung liegt der Durchschnitt bei etwa 7 Sekunden, wobei die Range von knapp 2 bis 14 Sekunden reicht. Spannend und auch ein bisschen ernüchternd dabei: der recht stabil negative Zusammenhang mit den Video-Aufrufen. Hier lohnt es sich etwas genauer hinzuschauen.

Auf TikTok kann man mit nur wenigen hundert Euro viel machen. Vor allem kann man mit Ads Nutzerdaten sammeln und sehen, wie der Content außerhalb der eigenen Blase ankommt. Die „Nutzerdaten“, die man hier sammeln kann, sind selbstverständlich nur beschränkt auswertbar. Was man aber auswerten kann, ist die Viewtime und zwar in den Kategorien „bis 2 Sekunden“, „bis 6 Sekunden“, bis zu 25%“, „bis zu 50%“, „bis zu 75%“ und „100%“. Das ist sehr nützlich, weil man hier ein realistisches Bild davon bekommt, welches Potential der aktuelle Content auf TikTok eigentlich gerade hat.

Nach den ersten drei Ad-Kampagnen hatten wir mit unserem Content etwa 85k Datensätze gesammelt. Deutlich zu sehen war, dass nur ganz weinge User, an die unsere Inhalte ausgespielt wurden, die Videos bis zu Ende geschaut hatten. Da wollen wir besser werden und definieren deshalb neben den üblichen Interaktion-Metriken die Viewtime als KPI.

Kreatives Teamwork – Input und Outcome

Den Kanal der Ehrenstiftung entwickeln wir in kreativem Teamwork – nicht nur mit den Moderatorinnen und Moderatoren aus dem Team, sondern auch mit anderen Kolleginnen und Kollegen aus der DSEE. Wir machen wöchentliche Planungs-Calls und haben eine Chat-Gruppe für neue Ideen und Input. Außerdem haben wir uns für die Kanal-Entwicklung auch externen Support geholt. Einerseits für Schnitt und Scripting, andererseits aber auch für Beratung und Reporting.

Denn das ist uns auch wichtig: Mit dem TikTok-Kanal der Ehrenstiftung wollen wir nicht einfach einen weiteren Kanal für die DSEE entwickeln. Wir wollen Engagement und Ehrenamt auf dieser Plattform präsent machen. Dafür vernetzen wir uns mit Nonprofits, die schon auf TikTok aktiv sind und arbeiten an skalierbaren Learnings, die den Einstieg auf die Plattform einfacher machen sollen. Denn das lohnt sich! Nicht nur, um das Thema in einer sehr jungen Zielgruppe präsent zu machen, sondern auch, um Impulse für die Entwicklung der eigenen Organisationskultur zu bekommen.

Um die „Organisationskultur“ – das Sammelsurium aus Nichtentschiedenen Entscheidungsprämissen – zu entwickeln, braucht es verführerische Impulse, Räume, Symbole und Gelegenheiten. Und hier können neue Kommunikationsformate wie Tiktok helfen:

  • Sie bieten einen Raum, in dem Kreativität gefragt ist. Ein Raum mit einem klaren Rahmen. Das ist nicht bloß eine Anything-Goes-Spielwiese.
  • Sie liefern Zeichen und Symbole, dass vermeintliche Regeln nicht immer so ernst genommen werden müssen. Ja, die Engagementförderung ist eine ernste Sache. Deshalb aber ständig alles bis zur Unkenntlichkeit auszudifferenzieren ist keine Lösung.
  • Sie bieten auch Gelegenheiten, agile Projektentwicklung zu üben. Mit unseren Weeklys, unseren Metriken und KPIs haben wir eine gute Struktur dafür. Und TikTok verzeiht auch, wenn Fehler passieren – wenn zum Beispiel die Ton- oder Bildqualität mal nicht so toll ist.
  • Und schließlich motivieren besonders neue Medienformate dazu, Neues zu lernen und auszuprobieren. Wer wollte nicht schon mal ein Early Adopter sein?

Let’s TikTok – ein kurzes Schlusswort

Ich hoffe, bis hierhin ist deutlich geworden, dass TikTok als neue Kommunikationsplattform einiges Potential für kreatives Miteinander und agiles Teamwork bietet. Es lohnt sich! Selbstverständlich aber gehört auch zur Wahrheit dazu, dass TikTok eine chinesische Plattform ist. (Das ist neben dem Algorithmus noch etwas, was sie von Facebook, LinkedIn, Twitter und Co unterscheidet.) Und weil China nicht unbedingt für Meinungsfreiheit bekannt ist, schwingt auch bei TikTok die Kritik der Zensur immer mit.

So berichtete die Tagesschau vor zwei Wochen über einen Schlagwortfilter, mit dem Kommentare auf der Plattform aus dem Verkehr gezogen werden. Neben „Gay“ sollen beispielsweise auch „Auschwitz“ und „Nationalsozialismus“ auf dieser schwarzen Liste stehen. Dass die Tagesschau darüber auf TikTok berichtete finde ich bezeichnend. Nach beabsichtigter Zensur jedenfalls sieht das eher nicht aus. Vielmehr glaube ich – auch wenn es die Sache mitnichten besser macht –, dass TikTok die Userzahlen über die Struktur gewachsen sind und man versucht Hatespeech und Co algorithmisch beizukommen.

Bei allem Spaß und bei aller Kurzweil müssen wir natürlich auch auf TikTok kritisch hinschauen. Gerade dieser Tage sehen wir, wie groß der Einfluss politischen Bullshits (Lügen, Verleumdungen und Propaganda) ist und wie sehr wir das in den vergangenen Jahren unterschätzt haben. Deshalb aber gegen jede gesellschaftliche Realität TikTok zum üblichen Teufelszeug zu erklären, hielte ich für ziemlich daneben.

Quellen
Hitzler, Ronald / Honer, Anne / Pfadenhauer, Michaela (2008): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnographische Erkundungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Shifmann, Limor (2014): Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter. Berlin: Suhrkamp.
Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp
von Gehlen, Dirk (2020): Meme. Digitale Bildkulturen. Berlin: Wagenbach.

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