In der vergangenen Woche hat wellcome ganz groß Geburtstag gefeiert. In wahrlich würdigen Locations gab es prominente Rednerinnen und Redner, Blumen, Goodie-Bags, Wein, Fingerfood und jede Menge Geschenke. Ein richtig großes Fest zum 20. Jubiläum!
Das Zukunftsinstitut hatte ein echt praktisches Präsent dabei: eine individuelle Megatrend-Map für wellcome. Das war insofern praktisch, als für den Tag nach der Gala zum Fachtag „Zukunftsdialog Familie“ eingeladen wurde. Ich war auch dabei und durfte zusammen mit Katja Brendel, wellcome-Landeskoordinatorin für Berlin, und zahlreichen Interessierten mit der brandneuen Map spielen.
Zukunft des Engagements in der Ich-Wir-Gesellschaft
Der grobe Plan bestand darin, entlang dreier Thesen über die Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements zu diskutieren. Schauen wollten wir dabei, welche Themen in den einzelnen Gruppen auf Resonanz stoßen. Diskutiert wurde vor allem das Spannungsfeld zwischen Ich- und Wir-Gesellschaft und der Begriff der Resonanz. Dazu weiter unten ein bisschen mehr. Zunächst die drei Thesen:
These #1: Individualisierung
Bürgerschaftliches Engagement wird ein Flicken in immer vielfältigeren Patchworks identitätsbildender Teilzeitgemeinschaften.
Der Megatrend „Individualisierung“ eröffnet den Menschen zahlreiche Möglichkeiten und bürdet ihnen gleichzeitig auf, eine Wahl treffen zu müssen. Wo kaufe ich ein? Was ziehe ich an? Mit wem verbringe ich meine Zeit? Orientierung in der grenzenlosen „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross) bieten Gemeinschaften: Der Clan beim Online-Gaming, die Fangemeinde des Fußballclubs, die Kolleginnen und Kollegen auf der Arbeit und natürlich die Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Ehrenamt.
Diese Teilzeitgemeinschaften sind die kleinen Flicken in der Patchwork-Identity des modernen Menschen und das bürgerschaftliche Engagement gehört auch dazu. Wie andere Gemeinschaften bietet das Engagement Raum für Miteinander, komplexitätsreduzierende Begrenzung von Optionen und den sinngebenden Fokus auf Werte. In der Zukunft wird sich das bürgerschaftliche Engagement in der bunter werdenden Welt der Multioptionsgesellschaft verorten müssen – neben zahlreicher werdenden Möglichkeiten, seine Zeit sinnvoll zu verbringen. Die Frage ist dabei, was das jeweilige Engagement Besonderes zu bieten hat.
These #2: New Volunteering
Das Narrativ des bürgerschaftlichen Engagements ändert sich – von der Ressource zum Resonanzraum.
Lange Zeit wurde über das bürgerschaftliche Engagement als „gesellschaftliche Produktivitätsressource“ (Daniela Neumann) gesprochen. Es galt die Engagementpotentiale zu heben, um die unbezahlbare Arbeit zu leisten, die es überall zu tun gibt. Wenig Beachtung fand bei dieser Erzählung die nachhaltige Kraft tätiger Mitgestaltung der Gesellschaft – im Kleinen wie im Großen. Doch diese Kraft des bürgerschaftlichen Engagements werden wir in Zukunft mehr brauchen als je zuvor.
In einer Zeit vieler Krisen und Katastrophen, die den ständigen Wandel schubweise beschleunigen (die Lockdowns der Corona-Pandemie beschleunigten die Digitalisierung; die Aggression Russlands gegen die Ukraine und Westeuropa beschleunigt die Energiewende usw.) müssen richtungsweisende Entscheidungen getroffen werden. Die Frage ist, auf welcher Grundlage diese Entscheidungen basieren: Auf dem Fundament dessen, was ‚von unten‘ wächst oder dem Sand unzähliger Partikularinteressen?
In dem Spannungsfeld zwischen partikularem Ich und dem Grass-Root-Wir müssen sich die Gestalterinnen und Gestalter bürgerschaftlichen Engagements verorten. Bestenfalls starten sie dafür immer wieder beim Why ihres Engagements. Worum geht es ihnen bei der Förderung von Engagement und Ehrenamt: um jobs to be done oder Empowerment zur tätigen Mitgestaltung?
These #3: Konnektivität
Die Perspektiven auf die Digitalisierung im Engagement verschmelzen – von einem analog versus digital zum real-digitalen Engagement.
Je mehr die Welt digitalisiert wird, so heißt es, desto mehr wünschen sich Menschen schöne Dinge zum Anfassen. Die flexible Remote-Work in Haupt- und Ehrenamt wird in Zukunft kaum noch jemand missen wollen, doch haben wir in der Turbo-Digitalisierung der letzten Jahre den Wert der Begegnung besonders zu schätzen gelernt: den Fokus auf das Hier und Jetzt statt der vielen bimmelnden Gerätschaften um uns herum, den unverzerrten Fluss kreativer Energie im Gespräch oder die Reize der (Innen-) Architektur und Kulinarik.
Angestoßen durch diese Learnings verschmelzen die Perspektiven auf die Digitalisierung im Engagement. Vorbei die Zeit der Meetings, die auch eine E-Mail hätten sein können. Vorbei die Zeit pseudo-präsenter Büroarbeit ohne Begegnung. Und vorbei die Zeit in ihren Home Offices vereinzelter Wissensarbeiterinnen und -arbeiter.
Bei all dem aber, was offenkundig vorbei sein soll, stellt sich natürlich die Frage, was denn da kommen mag. Ein Vorschlag: Lasst uns digital zusammenarbeiten und in Präsenz gemeinsam das schöne Leben feiern, in dem die Arbeit schon gemacht ist. Lasst uns die Zeit im Hier und Jetzt genießen und die kreative Energie frei fließen – vielleicht klappt’s dann auch mit (Innen-) Architektur und Kulinarik.
Diskussion #1: Ich-Wir-Gesellschaft
Ein oft besprochenes Problem in der Arbeit mit Freiwilligen kam zuerst zur Sprache: die Schwierigkeit, Engagierte an die Organisation zu binden und in ihre Netzwerke zu integrieren. Vermutet wurde, dass das partikulare Ich der Engagierten die Ursache sei. Man möchte sich eben seine Flexibilität erhalten und ’sein eigenes Ding‘ machen. Das größere Wir der Organisation und des wellcome-Netzwerkes sei da nicht attraktiv genug.
Nach aktuellen Umfragen zu Freizeitverhalten und bürgerschaftlichem Engagement der Deutschen, ist diese Annahme durchaus nachvollziehbar. Der 3. Ehrenamtsmonitor der Malteser zum Beispiel konstatiert, das spontanes Engagement weiterhin schwer im Trend ist. Mehr als ein Drittel der Befragten gab hier an, „sich allenfalls spontan zur Mitarbeit entscheiden [zu] wollen“ (Malteser Ehrenamtsmonitor S. 3).
Nun saßen wir aber in einer Runde von Diskutantinnen (es waren ganz überwiegend Frauen), die mit Menschen arbeiten, die sich – spontan oder nicht – bereits für ein Engagement entschieden haben. Menschen, die das Engagement bei wellcome völlig unproblematisch jederzeit auch wieder beenden können. Und Menschen auch, von denen zahlreiche schon für zehn und mehr Jahre Engagement bei wellcome ausgezeichnet wurden.
Nach meiner Auffassung haben wir es hier mit einem Phänomen zu tun, das ich vor vielen Jahren als „Berlin Syndrom“ kennengelernt habe: Es gibt so viele Möglichkeiten und Angebote da draußen, da bleibe ich lieber zu Hause. Die Optionen nämlich sind das Verlockende. Das gilt scheinbar gleichermaßen für die große Stadt wie für das Ehrenamt.
Diskussion #2: Resonanz
Dass das Thema Resonanz in einer unserer Gruppen aufgegriffen wurde, hat mich natürlich sehr gefreut. Der Begriff ist zwar, wie mir angetragen wurde, mittlerweile etwas ‚überzitiert‘ (lies: trendy), für eine Diskussion zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements aber ganz wunderbar geeignet. Denn es geht dabei um Rahmenbedingungen und nicht irgendwelche Moralappelle: Es geht um die Gestaltung der Organisation und nicht die Verschiebung struktureller Schwächen in die Persönlichkeit von Mitarbeitenden oder irgendwelcher Unbekannter (z.B. dieser Jugend).
Außerdem kann man zum Thema Resonanz mit dem Bild des Musikinstruments ein heiteres Brainstorming anzetteln:
- Was braucht es, damit Musik entsteht? (Struktur und Form, Impulse und Impulsgeberinnen oder -geber, Interesse und Haltung, Motivation und Feedback etc.) und
- Was können wir daraus für Engagement und Ehrenamt lernen? (Arbeit an Strukturen statt Menschen, Steuerung durch Impulse statt Law & Order, Beziehungsarbeit statt Ressourcenverwaltung etc.)
Ich denke, die Diskussion um die Resonanz war hilfreich. Wenn nicht, dann war sie zumindest heiter. Ich hoffe, das Thema überlebt seine derzeitige ‚Überzitierung‘, denn ich glaube, das Gefühl transformativer Verbundenheit, ist wirklich eins, das oft fehlt. Die verlockende Vielfalt der Optionen ändert daran nichts, denn erzwingen kann man es nicht – Resonanz ist unverfügbar (Hartmut Rosa).
Einladung zu Spiel und Dialog
Das Spiel mit den Entwürfen des Zukunftsinstituts bereitet mir schon einige Jahre große Freude. Hier im Blog finden sich dazu auch einige Beiträge – zum Beispiel zur Trendstudie „Hands on Digital“, zum Trendwort „Resonanz“ und zum „Zukunftsreport 2018“. Was mir dabei aber immer wieder fehlte, waren Themen der Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements. Erst in den letzten Reports kam dazu ein bisschen mehr – der Beitrag „Die durchlässige Demokratie“ von Gisela Erler zum Beispiel (Zukunftsreport 2022, S. 84-87). Vielleicht trägt die Beschäftigung mit wellcome und der Entwurf einer individualisierten Trend-Map dazu bei, dass es künftig mehr aus dieser Richtung zu lesen gibt.
Spannungen und Widersprüche gibt es in Engagement und Ehrenamt allemal. Eins davon ist mir gleich am Abend nach dem Fachtag begegnet: Mit einer Berlin-Besucherin aus Baden-Württemberg, der ich von unserem Workshop erzählte, geriet ich in die Diskussion über die Selbstverständlichkeit des Helfens. Gibt es eine (moralische) Pflicht zum Engagement für das Gemeinwohl? Gehört es zum Menschsein dazu, sich für die Gesellschaft einzusetzen oder schließt die Freiwilligkeit des Engagements auch die Möglichkeit ein, sich nicht zu engagieren?
Was meint ihr? Was wird wichtig(er) für das Engagement in der Zukunft?
Quellen: Gross, Peter (1994): Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Neumann, Daniela (2016): Das Ehrenamt nutzen. Zur Entstehung einer staatlichen Engagementpolitik. Bielefeld: transcript Verlag. (PDF) Rosa, Hartmut (2019): Unverfügbarkeit. Wien / Salzburg: Residenz Verlag.
Schöne und spannende Gedanken, lieber Hannes.
Das Verschmelzen von analog und digital ist zwar beruflich mein Fokus, wird aus meiner Sicht jedoch mittelfristig kein Thema mehr im Engagement-Bereich sein – denn es wird schlicht zur Normalität (auch wenn es bis dahin noch ein wenig Arbeit zu tun gibt).
Viel wichtiger, und damit auch der Fokus, sollte die Entwicklung von New Volunteerings Formaten im Kontext der Individualisierung sein. Resonanz mag überhyped sein, doch es ist ein wirklich wichtiger Ansatz, Engagement-Communitys als Resonanz-Räume zu sehen.
Neue Engagement-Formen werden den etablierten Organisationen viel Veränderung abverlangen. Doch diese Entwicklung ist unverzichtbar, wenn sie im Engagement-Bereich auf Dauer eine Rolle spielen wollen. Sonst füllen anderen den Raum und bieten das, was engagementbereite Menschen sich wünschen.
Ich bin sicher, dass es neue Engagement-Formen geben und (soziales) Engagement immer eine wichtige Rolle spielen wird. Was offen – und sehr spannend – ist: Wer wird diese Entwicklung mitgestalten, welche Organisationen bleiben wichtiger Veränderungsgestalterinnnen und welche kommen neu dazu?
Es bleibt spannend. Danke dir für den anregenden Workshop-Report. 🙂
Allerbesten Dank für deinen Kommentar, lieber Christian.
Ich stimme dir absolut zu: Die Arbeit an der „Integration“ digitaler Kommunikation wird im Engagement mittelfristig keine sonderlich große Rolle mehr spielen. Ich würde über den zeitlichen Horizont keine konkrete Aussage herbeiorakeln wollen, Geschäftsmodelle aber die allein darauf zielen, erscheinen mir mittlerweile nicht mehr sonderlich nachhaltig.
Was die New-Volunteering-Formate anbelangt bin ich skeptisch. Nicht etwa, weil wir daran nicht arbeiten sollten! Vielmehr bezweifle ich, dass wir dem Thema mit der Logik der „Format-Entwicklung“ gerecht werden. Ich glaube, wir sollten vielmehr an den Strukturen arbeiten, die Resonanz möglich machen (#Musikinstrument) statt Sammlungen zum Nachmachen anzulegen (#Notenhefte). Das Albus-Dumbledore-Motto „jeder nach seiner Lieblingsmelodie“ passt, finde ich, super gut zum bürgerschaftlichen Engagement als Resonanzraum 🙂
Hallo Hannes,
Da stimme ich dir zu. Formatentwickkung war nicht in klassischen Sinne a la Organisation Entwickler neue Angebote gemeint.
Eher so, dass wir die Möglichkeiten und Voraussetzungen schaffen, dass neue Formen entstehen können.
Heißt für Organisationen auch, sich von der Illusion, sie könnten und sollten definieren und bestimmen können, wer sich wie engagiert, zu lösen.
Langfristig relevante Organisationen in der Zivilgesellschaft müssen aus meiner Sicht Ermöglicher*innen sein (der Sozialarbeiter in mir denkt sofort in Empowerment-Begriffen) und Engagierten Möglichkeiten schaffen.
Wie siehst du denn die Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft im Engagement?
Die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen (was auch immer das im Einzelnen bedeutet) ist IMHO Möglichkeiten / Räume zu schaffen, konkrete soziale Problemlagen (was auch immer das sein mag) zu bearbeiten. Allein die Ermöglichung tätiger Mitgestaltung wird da aber kaum genug sein (hast du sicher auch nicht so gemeint). Engagement braucht konkrete Anlässe! Insofern, schätze ich, wird die Aufgabe zivilgesellschaftlicher Organisationen auch zukünftig der Spagat zwischen effektiver Zweck-Erfüllung der Organisation und individueller Motivation der Engagierten sein.
Auf der Meta-Ebene zivilgesellschaftlicher (Selbst-) Beobachtung wird dann spannend, wofür und auf welche Weise Menschen sich engagieren. Es braucht hier sicherlich einige Distanz zu den akuten Problemen der Organisationen (Fachkräftemangel, Nachwuchssorgen, finanzielle Nöte etc.). Ich glaube aber eben die Beobachtung, das aufmerksame Hinschauen und intensive Zuhören (so schwierig das auch manchmal ist) wird in Zukunft wichtiger als das Kondensieren partikulärer Forderungen gegenüber wem auch immer.
Long story short: Yes! Empowerment zur tätigen Mitgestaltung ist eine wichtige Aufgabe für die Zivilgesellschaft (für die Soziale Arbeit, deren zentrale Logik Inklusion sein sollte, sowieso), nicht aber um den Preis fehlenden Fokus‘.
Agreed 😉